Anders leben auf Rädern
Der Hamburger Wagenplatz hat eine Nische zwischen grüner Idylle und Trucker-Imbiss gefunden – bis die Bagger rollen
In Uschis Imbiss verzehren die Trucker ihre Currywurst. Ihre schweren Sattelschlepper parken vor der Tür im städtischen Niemandsland. Gegenüber der Fressbude beginnt die Grenze zum Hafen. Sicherheitszaun und eiserne Pfosten ragen wie eine Befestigungsanlage in die Höhe. Tankstellen, Lagerhallen und Pkw-Händler haben sich hier niedergelassen. Eine urbane Ödnis, aber noch typisch Hamburg: Das wilde Gehölz, das ungeordnete Grün gehören dazu, solange nicht der letzte Quadratmeter verwertet und versiegelt ist. Ein kleiner Wald, fast unberührt, ohne Förster und Baumzucht. Etwas Dschungelgefühl kommt auf: leicht sumpfig, dunkel, unwegsam. Die Reste eines Baumhauses sind noch zu sehen. Hier wohnten bis vergangenen Sommer ein paar Freaks auf den Bäumen, bis das Bezirksamt mürrisch wurde und sie vertrieb. Im vergangenen Dezember kam Zomia, eine Gruppe von Menschen, die in Bauwagen wohnt, und ließ sich hier nieder.
Nah an der Natur leben
Simon Holzapfel hackt Holz. Er muss sich beeilen, bevor der nächste typisch Hamburger Regenschauer das Anbrennen der frischen Scheite verhindert. In seinem Bauwagen ist es kalt. Der 29-Jährige studiert Geografie und bezieht den Strom für sein Notebook aus den Solarzellen, die vor seiner Tür stehen. Zehn Quadratmeter Platz zum Wohnen. Das reicht. »Das reduzierte Leben macht unabhängiger«, stellt er fest. Kein Vermieter, keine Nachbarn, die die Treppenhausreinigung kontrollieren. Hier kann nach Herzenslust geschraubt und montiert werden. »Das ist eine ewige Baustelle, immer was zu tun.« Er zeigt auf die neuen Doppelglasfenster, die er demnächst einbauen will. »Den Wagen habe ich mir selber gebaut. Ich bin mobil, kann flexibel umziehen und zahle keine Miete.« Simon lebt in einer Wohngemeinschaft mit neun weiteren Wagenbewohnern auf einer Lichtung im Wilhelmsburger Wäldchen.
Stefanie Mehring heißt seine Nachbarin. Sie hat, bevor sie nach Wilhelmsburg kam, bereits zwei Jahre in ihrem »Schneckenhäuschen« auf einem Wagenplatz in Lüneburg gewohnt und Umweltwissenschaften studiert. Jetzt arbeitet sie als Krankenschwester. Das ist ihr Erstberuf. 32 Jahre ist sie alt und wohnte auch mal in einer WG. »Aber das ist nichts für mich. Da fühle ich mich so eingesperrt. Wenn ich einen ganzen Tag lang nicht das Haus verlassen konnte, wusste ich gar nicht, welches Wetter draußen war.« Die Natur ist fern: Zimmertür, Wohnungstür, Treppenhaus, Haustür, Asphalt … »Im Bauwagen nehme ich vielmehr die Witterung und die Jahreszeiten wahr.« Eher noch könnte sich Stefanie vorstellen, in einem eigenen Haus zu leben statt in einer Etagenwohnung.
Von all dem »unnützen Kram« aus ihrem früheren Leben als Mieterin hat sich Stefanie befreit. Keine überflüssigen Schränke mehr, keine Klamotten, die nur an der Stange hängen. Mit Strom und Wasser geht die Bauwagenbewohnerin jetzt viel bewusster um als vorher. Letzteres muss aufwendig herangekarrt werden, von Leuten, die im Stadtteil wohnen und über einen Wasseranschluss verfügen. Ihren Kanister hat Stefanie an ihre Minispüle angeschlossen. Sie pumpt mit dem Fuß, wenn oben das Wasser aus dem Hahn fließen soll, und es läuft aus der Leitung – fast wie in einem Wohnhaus.
Im Winter ist der nächtliche Gang zur Toilette ein umständliches Unterfangen: Jacke anziehen, mit den Füßen in die Stiefel schlüpfen, 100 Meter weit durch den Schnee tapsen, zur Komposttoilette. Ein Kälteschock nach Stunden im warmen Bett. Morgens den Ofen anheizen. Der kleine Raum ist schnell erwärmt. Hoffentlich ist das Wasser im Kanister nicht eingefroren. Drinnen und Draußen trennt nur eine klapprige Holztür. Im Sommer wird das Frühstück vor der Tür eingenommen. Sonnenschein und Wiesenduft geben ihm die Würze. Barfuß nach draußen gehen. Hier sind keine Straße und kein Gehweg, die einen von der Natur trennen.
Die Gruppe der zehn Zomia-Bewohner hat ihren Namen einem asiatischen Gebiet zwischen Vietnam und China entliehen. Dort soll es zahlreiche autonome Siedlungen geben, die keiner Regierung gehorchen. In Wilhelmsburg versuchen die Zomiaten kollektiv und individuell zugleich zu leben. Sie besuchen sich gegenseitig, wenn sie Lust haben, kochen und essen gemeinsam, aber ersparen sich den Stress einer gemeinsamen WG-Küche mit all den Abwaschzänkereien und den bürokratischen Putzplänen, die nie eingehalten werden. »Man hat trotzdem sein eigenes Reich, obwohl man eine Gemeinschaft ist«, sagt Stefanie. Die Wagengenossen treffen sich mindestens einmal pro Woche zum Plenum. Da gibt es viel zu organisieren: die Kontakte zu Behörden und Politikern aller Parteien, zu den entfernten Nachbarn, die auf der gegenüberliegenden Seite des Ernst-August-Kanals wohnen, Presseanfragen, Feste vorbereiten, noch mehr Unterstützer gewinnen.
Unterstützung ist besonders wichtig. »Mit den Leuten im Stadtteil verstehen wir uns überwiegend sehr gut«, meint Simon. In dem einstigen Arbeiterviertel sind in den vergangenen Jahren zahlreiche Wohngemeinschaften entstanden. Die werden auch mal zu Festen eingeladen.
Die Wagenburg darf nur bis Ende April auf dem grünen Brachland bleiben. Eine »Winterlösung« heißt das im Amtsdeutsch. Denn offiziell will in Hamburg kaum jemand einen neuen Wagenplatz genehmigen. Ein heißes Eisen. Denn schon 1959 hat die Bürgerschaft mit ihrem Wohnwagengesetz das Wohnen in mobilen Behausungen verboten. Erst seit 1999 sind Übergangslösungen erlaubt, obwohl schon Ende der 80er Jahre die ersten Bauwagen im Stadtteil Ottensen bewohnt wurden. Unter den mobilen Dächern hängt der Haussegen schief. Kaum hat sich eine Wagenburg zusammengefunden, rückt die Polizei an. So ging es die gesamten 90er Jahre hindurch. Kurze Duldungen, mal wurde ein Auge zugedrückt, dann wieder vertrieben. Wie ein Wanderzirkus zog die Karawane unter Polizeischutz durch die Stadt.
Für Remmidemmi sorgte dann der Wagenplatz »Bambule« im Stadtteil St. Pauli. Als Innensenator Ronald Schill 2002 die Wagenburg räumen ließ, brannten in Hamburg wochenlang Barrikaden. Die Unterstützerszene war gewaltig. Das Ende der pluralen Gesellschaft schien eingeläutet zu werden. Danach kehrte wieder Ruhe ein. Fünf Plätze werden zurzeit geduldet, bis im vergangenen November in Wilhelmsburg eine neue Wagensiedlung zusammenfand.
Gegen den Ausverkauf der Stadt an Investoren
»Wir haben vorher alle schon auf anderen Wagenplätzen gewohnt.« Simon war zuvor drei Jahre lang in Norderstedt gewesen. »Ich wollte in die Stadt«, sagt er. »Da draußen am nördlichen Rand ist alles so weit weg.« Zomia will Wohnraum schaffen. Der fehlt in Hamburg, vor allem die bezahlbaren Wohnungen für Menschen, die wenig Geld verdienen. Wer sich einen Wagen zimmert und darin lebt, entlastet den Wohnungsmarkt.
Das passt gut zur Bewegung Recht auf Stadt. Sie kämpft seit Mitte 2009 gegen die Gentrifizierung in Hamburg, gegen steigende Mieten und Kommerzialisierung öffentlicher Flächen, gegen den Ausverkauf der Stadt an Investoren, die in leerstehende Bürotürme investieren. Zur ihr gehören die Künstler im besetzten Gängeviertel, Mieterinitiativen, Kleingartenvereine und auch traditionell autonome Gruppen. Simons Wagenburg gehört ebenfalls mit dazu. »Wir setzen uns für Bauwagenplätze als Teil einer vielfältigen Gesellschaft ein.« Das Projekt Wagenburg versteht Zomia als ein politisches, als eine Revolution von unten. Eine andere Form zu leben, sogar mitten in der Stadt. Noch ist es möglich.
Das sind die Freiräume, die Hamburg hier und dort noch bietet, solange sie nicht versiegelt werden. Zwischennutzungen, bis die Bagger rollen. Für die Trucker in Uschis Imbiss soll schon in wenigen Jahren ein neuer Highway asphaltiert werden: die Hafenquerspange zwischen zwei Autobahnen. Beschleunigung statt Klönschnack. Für das Biotop scheinen die Tage gezählt zu sein. Spätestens dann werden die Bauwagenbewohner nach einer neuen Zwischenlösung suchen müssen. Die Utopie auf Rädern bleibt weiter in Bewegung.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.