Schöner Satz: »Ich bin im Widerstand«

Kleist-Jahr 2011: Regisseur Armin Petras über Trost und Trotz

  • Lesedauer: 7 Min.
Armin Petras, im November wird das Maxim-Gorki-Theater ein Kleist-Festival haben, das gesamte dramatische Werk wird zu sehen sein; der Kleistspezialist László Földényi wird lesen – es gibt über 20 Premieren und Veranstaltungen; Ihr Theater wird, wie es heißt, in eine »metaphorische Kleist-Welt« umgestaltet.
ND: Kleist total. Kleist als Kampagne?
Petras: Unsere Beschäftigung mit Kleist war stets intensiv, aber nie Kampagne – jetzt ist sie Kampagne geworden. Von Beginn an kreisten unsere Spielpläne um Berlin-Brandenburg, um Deutschland, um widerständige Stücke und Autoren. Jetzt steigert dieser 200. Todestag von Kleist die Intensität. Kampagne, klar.
Armin Petras, 1964 in Meschede geboren, 1969 Übersiedlung mit den Eltern in die DDR, Regiestudium, 1988 Ausreise in die BRD, ab 1992 u.a.: Regisseur in Frankfurt (Oder), Oberspielleiter in Nordhausen, Schauspieldirektor in Kassel, seit 2006 Intendant des Maxim Gorki Theaters Berlin.
Armin Petras, 1964 in Meschede geboren, 1969 Übersiedlung mit den Eltern in die DDR, Regiestudium, 1988 Ausreise in die BRD, ab 1992 u.a.: Regisseur in Frankfurt (Oder), Oberspielleiter in Nordhausen, Schauspieldirektor in Kassel, seit 2006 Intendant des Maxim Gorki Theaters Berlin.

Es gibt Dichter, vor denen haben Regisseure lebenslang Furcht, meiden sie gar. Fürchten Sie Kleist?
Mein Gott, ich habe den ersten Kleist schon vor knapp zwanzig Jahren inszeniert. Mit keinem Dichter beschäftigte ich mich länger.

Kleist-Kenner Petras?
Nein. Dass ich mich mit Kleist beschäftigte und beschäftige, das heißt nicht, ich hätte irgendeine Ahnung von ihm. Aber Ahnungen habe ich. Er ist mir mit den Jahren näher gekommen.

Womit?
Er regt auf. Die Probleme seiner Stücke haben mit der Welt zu tun, in der ich lebe. Die Sprache fasziniert. Von dieser Sprache freilich rührt die einzige große Angst: Sie ist eine wahnwitzig schwere Prüfung für Schauspieler – und für Zuschauer auch. Also: Lockt sie Leute ins Theater oder nicht? Die Kernfrage.

Sie gelten als rasend intensiver Arbeiter. Rauschhaftes Inszenieren, motorschnelles Adaptieren von literarischen Werken, Arbeit als Leben. Aber dann dieser schwierige, fordernde Kleist. Man meint doch, sich in ihn lange, lange vergraben zu müssen, um ihn zu entdecken. Ist Beschäftigung mit diesem Dichter ein Widerspruch zu Ihrem Produktionstempo?
Da ist ein Widerspruch, und ob! Kleist hat eine Tiefe des Denkens, an die komme ich nicht ran. Und ich ahne, dass es anderen Regisseuren ähnlich geht, auch wenn sie das Gegenteil behaupten. In München inszenierte ich »Robert Guiskard«, für mich der schwerste Text von Kleist, schwerer noch als »Penthesilea«. Nach drei Wochen Arbeit habe ich überhaupt erst ansatzweise verstanden, worin der innere Vorgang dieses Stücks besteht. Das ist erschreckend für einen Regisseur, zumal an einem Haus mit so tollen Schauspielern. Aber der Schwierigkeitsgrad war und blieb die Herausforderung.

Die Kleist-Quintessenz: Er sagt, es sei ihm auf Erden nicht zu helfen gewesen. Klingt besonders und wird immer sehr besonders hingeraunt. Aber ist denn überhaupt irgendeinem Menschen auf Erden zu helfen?
Ich lasse mich ungern hinreißen, über andere Menschen zu sprechen oder im Namen anderer Menschen. Ich kann die Frage also nur für mich beantworten: Mir ist zu helfen. Und mir hat gerade Kleist sehr geholfen.

Wie?
Ich entdecke bei Kleist etwas sehr Deutsches, etwas sehr Preußisches, interessant, dass dies auch nach zweihundert Jahren noch lebendig ist – der Mensch und seine »Chronik der Gefühle«, wie es Alexander Kluge nennt. Unser Tornister. Ein Gepäckstück, das unbeschadet durch viele Zeiten getragen wird. Die Rücken, die das Ding schleppen, wechseln. Der Tornister bleibt. Wir fühlen älter und tiefer, als es unser flacher Gegenwartsatem vermuten lässt. Leben ist ein fortgesetzter Tauschprozess. Und Kleist lebt, indem er mit uns tauscht – Texte gegen Interpretationen. Er hilft mir, Leben auszuhalten, Leben zu verstehen und zu lernen, Widersprüche auszuhalten. Wir reden immer so reflexhaft vom unglücklichen Kleist, aber – jetzt sehr, sehr grob, jedoch deutlich gesagt – keiner von uns ist dabei gewesen.

Er hat sich erschossen.
Selbst wenn er unglücklich war, hat er doch auch unglaublich sinnerfüllt und intensiv gelebt. Dass diese Intensität eher im grau-schwarzen Bereich angesiedelt war, weniger im rosa-hellblauen, das ist eine andere Geschichte. Dieser Mensch tut mir nicht leid.

Keiner ist dabei gewesen … Damit berühren Sie die ewige Frage: Wie hat der Dichter gemeint, was wir heute interpretieren?
Ein Text ist nur ein semiotisches Gebilde. Spätestens seit dem Strukturalismus wissen wir, dass dieses Gebilde im Grunde nicht wirklich zu verstehen ist ohne die konkrete Welt, gleichsam ohne den Tag oder die Stunde, in der ein Text geschrieben wurde. Daher ist es Nachfolgenden fast unmöglich, mit Gewissheit den Satz auszusprechen: Wir wissen, was gemeint ist. Wir folgen uns, nicht dem Dichter. Wir erhöhen uns, indem wir einen fremden Sinn als den einzig wahren behaupten.

Zwei Stichworte. Das erste: Trost.
Es gibt einen schwedischen Autor, der sagt, Trost sei das einzige, was wir Menschen wirklich brauchen.

Das zweite Wort: Trotz.
Wir hatten vor Kurzem eine großartige Veranstaltung zu unserer Inszenierung »Früchte des Zorns«. Ein Soziologe sprach über das Ende des »Teilhabekapitalismus« – das heißt: Die Reichen teilen nicht mehr mit den Armen, Solidarität nach unten wird aufgekündigt, und diese neue sehr alte Gesellschaftsstruktur verfestigt sich täglich. Man konnte nur erschrecken und erstarren. Eine Stunde später saß eine junge Frau auf dem Podium und sagte, sie sei im Widerstand. Mit Gleichgesinnten kämpfe sie gegen schädliche Gentechnologien und lege sich zum Beispiel protestierend in Maisfelder. Den Satz fand ich wunderbar: »Ich bin im Widerstand.« Den Satz habe ich zwanzig Jahre nicht mehr gehört. Der ist erhebend. Ich bin begeistert, dass es solche Menschen gibt und ich sie kennen lerne. Klar: Auf der anderen Seite glaube ich, dass Leben ein Strom ist, gegen den man sich wirft, aber mit dem man immer auch weitergeschleudert wird. Man schwimmt gegen und sucht doch auch nach festem Grund, auf dem man mitlaufen kann, um nicht unterzugehen.

Noch mal zu Ihrer Arbeits- als Lebensweise: Intendant, Regisseur, Autor. Wir organisiert sich da eine Balance?
Da gibt es keine Balance, es ist allzeit ein offener Kampf. Brecht hat gesagt, die Ästhetik unserer Kämpfe richte sich nach unserem Feind. So würde ich das auch für mich beschreiben. Wenn es eine Zeit des Schreibens gibt, muss anderes zurückgedrängt werden. Da gibt es keine feste Regeln, leider auch keine Regelmäßigkeit.

Kann man sich Armin Petras, in diesem »offenen Kampf« als einen glücklichen Menschen vorstellen?
Von Marx' Gesellschaftsprogrammatik ist mir nicht sehr viel nah, aber seine Idee vom Glück ist mir sehr nahe: Glück als Möglichkeit, sich entsprechend seiner Fähigkeiten zu verbrauchen.

Und zwar total.
Ja. Ich erwarte nicht, dass ich mit fünfzig aussehe wie zwanzig.

Sinnvoll verwittern.
Richtig. Zur Natur zurückkehren, aber eigensinnig. Rückkehr zur Natur, also Sterben, gelingt jedem. Eigensinn aber ist Leistung. Die Marxsche Auffassung vom Glück denke ich zusammen mit Max Frisch: »Es gibt zwei Dinge, die man im Leben schaffen muss. Das erste ist, herauszukriegen, wer man wirklich ist. Und das zweite, was viel viel schwieriger ist: dazu dann auch zu stehen.« Etwas Drittes kommt hinzu: Weil sich die Gesellschaft und der eigene Körper ständig ändern, muss man den Mut haben, etwas, das man bis gestern gut und erfolgreich und unangefochten tat, morgen über Bord zu werfen.

Muss Theater böse sein?
Ja. Theater muss gewohnte, liebgewonnene Sichtweisen zerstören, es muss Realität wie ein Menetekel an die Wand malen.

Wenn Sie jetzt Bilanz ziehen müssten, glauben Sie, dass Sie ein extremes Leben geführt haben?
Nein, ein absolutes kleinbürgerliches Leben. Ich mache schon sehr viele Jahre dasselbe. Gehe rechtzeitig schlafen. Habe nicht zu viele Drogen.

Ihre Auffassung von Reichtum?
Meine Familie möge mir für einen Moment den Ausbruchstraum verzeihen. Man könnte mich in ein kleines Zimmer mit Wasser und Wärme einsperren, für acht Stunden in der Nacht, und für den Rest der Tageszeit bräuchte ich eigentlich nur eine Probebühne. Wenn man mir das als Lebensrentenform ermöglichte, ich würde sofort unterschreiben. Ich weiß nicht, ob Arbeit das richtige Wort ist für das, was ich tun darf.

Was Sie – können.
Nein, was ich tun darf.

Interview: Hans-Dieter Schütt

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