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Verliert die Ukraine ihre Freiheit?

Präsident Viktor Janukowitsch seit einem Jahr im Amt

  • Manfred Schünemann
  • Lesedauer: 4 Min.
Am 25. Februar vor einem Jahr wurde Viktor Janukowitsch als vierter Präsident der unabhängigen Ukraine vereidigt. Nach Auffassung seiner Gegner im In- und Ausland steuert Janukowitsch seither geradewegs zurück in Richtung »Diktatur«.

Die Ukraine ist nach fünf Jahren zermürbenden Streits zwischen Präsident, Regierung und Parlament, der mehrfach an den Rand der Staatskrise führte, stabiler und berechenbarer geworden. Das geben auch kritische Beobachter zu. Und 51,8 Prozent der Ukrainer meinen laut Umfrage, Viktor Janukowitsch erfülle seine Versprechen entweder »konsequent« oder »im Maße seiner Möglichkeiten«. Als wichtigste Errungenschaft gilt der Umfrage zufolge seine »ausgewogene Außenpolitik«.

Tatsächlich steuert die neue Führung einen pragmatischen Kurs. In der Wochenzeitung »Serkalo Nedjeli« (Wochenspiegel) schrieb Außenminister Kostyantyn Gryshchenko von der »Einbettung der Ukraine in Europa unter Beibehaltung partnerschaftlicher und freundschaftlicher Beziehungen zu Russland«. Durch die Verlängerung des Stützpunktvertrags für die Russische Schwarzmeerflotte in Sewastopol um 25 Jahre und die Bekräftigung des blockfreien Status der Ukraine hatte Präsident Janukowitsch gleich zu Beginn seiner Amtszeit die größten Belastungen im ukrainisch-russischen Verhältnis beseitigt. Inzwischen gehören Konsultationen auf allen Ebenen, eine intensivere wirtschaftliche Zusammenarbeit und langfristige Vereinbarungen zur Versorgung der Ukraine mit Energieträgern aus Russland wieder zur Normalität in den Beziehungen zwischen Kiew und Moskau. Was nicht heißt, dass die Interessen beider Staaten in jedem Falle übereinstimmten.

Gleichzeitig setzt die Ukraine ihren Kurs auf europäische Integration fort, ohne auf illusionären Forderungen wie in vergangenen Jahren zu beharren. Man weiß in Kiew, dass die wichtigsten Voraussetzungen für eine »europäische Perspektive« durch Reformen im Innern zu schaffen sind. Wichtige Weichen sollen mit den Verhandlungen über den Aktionsplan EU-Ukraine gestellt werden.

Für die besagten Reformen gibt es derzeit eine stabile Parlamentsmehrheit. Die scheint sogar zu wachsen, denn immer wieder stimmen Abgeordnete aus der Opposition mit der Regierungsmehrheit – und werden prompt aus dem Block der ehemaligen Regierungschefin Julia Timoschenko (BJUT) ausgeschlossen. Wegen der »Überläufer« ist die Partei der Regionen (PdR) unter Viktor Janukowitsch immer weniger auf die Unterstützung ihrer ursprünglichen Koalitionspartner angewiesen. Die Kommunisten (KPU) und der Block des Parlamentspräsidenten Wolodymyr Litwin verlieren folglich an Einfluss auf die Regierungspolitik.

Auf diese Weise wurde eine Reihe von Reformen durchgesetzt, die Verwaltung, Justiz und Steuergesetzgebung betrafen. Eine Reform der Rentengesetzgebung ist in Vorbereitung, stößt allerdings – wie andere Schritte auch – auf Widerstand nicht nur in der Opposition. Geplant ist zunächst eine schrittweise Erhöhung des Renteneintrittsalters für Frauen von 55 auf 60 Jahre. Befürworter weisen unter anderem auf den dramatischen Bevölkerungsverlust der Ukraine hin: Seit 1991 verlor das Land etwa sechs Millionen Einwohner. Gegner argumentieren auch damit, dass die Lebenserwartung in der Ukraine zehn Jahre unter dem europäischen Durchschnitt liege, vor einer Erhöhung des Rentenalters also zunächst die Gesundheitsversorgung verbessert werden müsse.

Eine gravierende Entscheidung fällte – auf Antrag des Präsidentenlagers – das Verfassungsgericht im Herbst 2010, als es die Rückkehr zur Verfassung von 1996 anordnete. Damit wurde der Übergang vom Präsidialsystem zur Parlamentsdemokratie, der im Zuge der »Orangenrevolution« 2004 begonnen worden war, faktisch rückgängig gemacht. Formal verfügt Präsident Janukowitsch wieder – wie einst Leonid Kutschma – über fast unbeschränkte Vollmachten in Bezug auf die Ernennung der Regierung, die Auflösung des Parlaments und die Bestimmung des Regierungskurses. Die Opposition und viele Ratgeber im Westen beschwören die Gefahr, dass die Ukraine ihre »hart erkämpfte Freiheit« verlieren könnte.

Beklagt werden vermeintliche und tatsächliche Restriktionen im Medienbereich. Ein Großteil der Sender und Zeitungen ist jedoch in der Hand von Oligarchen, die auch oppositionsnahe Medien finanzieren. Eine Einschränkung der Meinungsvielfalt wird man schwerlich feststellen können. Wer allerdings das angesichts der Fußball-Europameisterschaften 2012 in Kiew geplante Verbot, sich auf hauptstädtischen Balkonen in Unterwäsche zu zeigen, als Zeichen »zunehmender Bevormundung wie zu Sowjetzeiten« anprangert, sollte einen Blick in deutsche Hausordnungen werfen.

Zweifellos aber nutzen Janukowitsch und seine Regierung ihre Macht, die eigenen Positionen zu stärken. Auch die Festlegung der Termine kommender Wahlen durch die Werchowna Rada diente der Festigung des derzeitigen Kräfteverhältnisses: Das Parlament wird im Oktober 2012 neu gewählt, die die nächsten Präsidentenwahlen finden im März 2015 statt.

Julia Timoschenko hatte auf Parlamentswahlen noch in diesem Jahr gesetzt, um selbst wieder ein Mandat und die damit verbundene Immunität zu erlangen. Derzeit ist sie nicht einmal Abgeordnete und sieht sich zwei Strafverfahren wegen Amtsmissbrauch ausgesetzt. Selbstverständlich präsentiert sie sich wieder einmal als Märtyrerin, die einem »kriminellen Regime« zum Opfer fällt. Die Forderung nach Parlamentswahlen noch in diesem Jahr unterstützen aber nur etwa 18 Prozent der Wähler.

Die Kommunalwahlen im vergangenen Herbst und Umfragen belegen, dass Janukowitsch und seine PdR über ein stabiles Wählerpotenzial verfügen, wenngleich ihre Zustimmungswerte unter dem Eindruck des – auch vom Internationalen Währungsfonds geforderten – schmerzhaften Reformkurses und der tiefen Wirtschaftskrise im vergangenen Jahr gesunken sind. Die PdR bleibt mit etwa 28 Prozent stärkste Kraft in der Ukraine, der oppositionelle Block Julia Timoschenko (BJUT) kommt dagegen derzeit nur auf etwa 17 Prozent.

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