Aschenputtel soll sitzenbleiben
Neue Schule oder nicht? 2006 ging die Landespolitik dazu in Klausur – jetzt folgt die Prüfung
Ruhe ist erste Bürgerpflicht – das meint zumindest die CDU in Sachsen-Anhalt, wenn es um das Thema Schulen geht. »Wir brauchen Ruhe im System«, sagt Spitzenkandidat Reiner Haseloff, wann immer das Reizwort vom »längeren gemeinsamen Lernen« fällt. Schülern, Lehrern und Eltern seien genug Veränderungen zugemutet worden. Ein paar Korrekturen hie, ein Modellversuch da – das soll reichen.
Die CDU steht mit dieser Position freilich allein auf weitem Schulflur; nur die FDP, deren Wiedereinzug in den Landtag ungewiss ist, hält wie sie am gegliederten Schulsystem aus Gymnasium und Sekundarschule strikt fest. LINKE, Grüne und der bisherige Koalitionspartner SPD wollen dagegen deutliche Veränderungen – und haben gewichtige Argumente auf ihrer Seite.
Nicht nur sind Umfragen zufolge 62 Prozent der Bürger mit der Bildungspolitik unzufrieden; eine Mehrheit will, dass Kinder nicht mehr schon nach der 4. Klasse getrennt werden. Auch ein Bildungskonvent, der in dieser Wahlperiode tagte, kam zum Schluss, dass es Zeit sei, Sachsen-Anhalts Schulen »für das längere gemeinsame Lernen weiter zu öffnen«. Die Sekundarschule, hieß es weiter, habe »einen schweren Stand« und müsse aufgewertet werden.
Der Konvent galt zunächst als Verlegenheitslösung, weil sich CDU und SPD in den Koalitionsgesprächen 2006 am Schulthema festbissen. Doch das Gremium, in dem 37 Experten aus Parteien, Kommunen, Gewerkschaften, Kirchen, Wirtschaft und Praxis mitwirkten, legte nach 45 Klausursitzungen fundierte Empfehlungen vor und erntete parteiübergreifend viel Respekt.
Nun müssen sie umgesetzt werden, sagt Thomas Lippmann, Chef der Bildungsgewerkschaft GEW – wegen des »Drucks der schlechten Ergebnisse«. Zwar drängen 40 Prozent der Schüler im Land aufs Gymnasium; ein Drittel aber schafft die Leistungen nicht. Sie werden »abgeschult« – und erleben schon früh das Gefühl einer Niederlage. Am Ende schaffen 25 Prozent das Abitur, 28,5 Prozent beenden die Schule mit dem Hauptschulabschluss, der laut Lippmann »kein Renner auf dem Arbeitsmarkt« ist, oder gar gänzlich ohne Abschluss.
Veränderung tut also Not. Vorschläge, wie das ohne revolutionäre Umbrüche geschehen könnte, hat etwa die GEW vorgelegt. Sie regt an, die Sekundarschule deutlich aufzuwerten. Diese dürfe nicht länger »Auffangbecken für diejenigen sein, die es nicht aufs Gymnasium schaffen«, so Lippmann. »Das Prinzip Aschenputtel hat keine Zukunft.« So solle es eine »knackige praktische Ausbildung« geben, eine Art wöchentlicher Unterrichtstag in der Produktion. Und es soll ein modifiziertes Abitur erworben werden können. Diese »Oberschule« wäre eine Einrichtung, »für die man sich bewusst entscheidet und nicht nur, weil es am Gymnasium nichts wird«, sagt Lippmann. Die finale Wahl zwischen den Schulformen sollen erst in der 9. Klasse die Schüler treffen statt in der 4. Klasse Lehrer und Eltern. Der Stoff in mittleren Schuljahren soll angeglichen werden. Damit wäre faktisch die Gemeinschaftsschule eingeführt: »Das ist nur noch eine Frage des Namens«, sagt LINKE-Chef Matthias Höhn.
Die GEW, aber auch die Mitte-Links-Parteien, die ähnliche Konzepte vertreten, betonen, dass der Umbau »keine Sturzgeburt« würde. Sieben bis zwölf Jahre werde er dauern, sagt Höhn; die SPD billigt die endgültige Entscheidung zudem den Kommunen und den Eltern zu.
Sollte nach der Wahl eine rot-rote Koalition zustande kommen, hat die Oberschule gute Chancen. Doch auch eine CDU/SPD-Regierung müsste sich deutlich bewegen, glaubt Lippmann: »Ohne diese Entscheidung kommt die Koalition nicht zustande.« Eine SPD, der es nicht gelinge, die Ergebnisse des Konvents in den Koalitionsvertrag zu übernehmen, »wäre die Getriebene von LINKE und Grünen«, prophezeit der GEW-Chef: »Das würde sie zerreißen.« Die Muskeln lässt die SPD schon spielen: Sie beanspruchte bereits das Kultusministerium.
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