Sendai erwacht langsam aus dem Albtraum

Die dem Epizentrum nächstgelegene japanische Stadt ist stark zerstört / Premier Kan: Historische Notlage

  • Sebastian Maslow, Sendai
  • Lesedauer: 4 Min.
Nach dem verheerenden Erdbeben und der Tsunamiwelle sieht Japans Ministerpräsident Naoto Kan sein Land vor einer historischen Notlage. Er bezeichnete die Katastrophe – auch im Blick auf die Atomkraftwerke – als schlimmste Krise seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, wie die japanische Nachrichtenagentur Kyodo am Sonntag meldete. Die Regierung genehmigte Sondermittel für Soforthilfemaßnahmen.

Wenigstens ist am dritten Tag nach dem Erdbeben und dem Tsunami der Himmel über Sendai strahlend blau. In der Innenstadt kehrt langsam so etwas wie Alltag zurück, nachdem die Versorgung mit Strom wieder aufgenommen wurde. Zuvor sah man im Zentrum nur spärliche Notbeleuchtungen in den Häusern. Mit einer für Westeuropäer unglaublichen Disziplin und Gelassenheit versuchen die Menschen, wieder Ordnung in die Stadt zu bringen.

Unfassbare Verwüstungen

In Sendai, wo das Erdbeben am heftigsten zu spüren war und die dann nachfolgende Riesenwelle schlimmste Zerstörungen anrichtete, ist das ganze Ausmaß der Verwüstungen für die Überlebenden der Katastrophe noch gar nicht richtig fassbar. Für einen Überblick ist man auf die Bilder angewiesen, die das japanische Fernsehen ausstrahlt. Wo das Wasser abzog, zeigen sie an der Küste nur die Wracks von an Land gespülten Fischerbooten. Von Wohngebieten kann man oft nur noch spärliche Reste erkennen. Im Norden Sendais brennen auch am Sonntag die Ölraffinerien. Der Flughafen steht teilweise noch unter Wasser. Roll- und Landebahnen sind von Schlamm bedeckt, Hangars weggerissen, die aus dem Flughafen wie Finger herausragenden Gangways verbogen.

Nur wenige Kilometer westlich der Innenstadt von Sendai, in Küstennähe, entdeckte man die Leichen von 200 Menschen, die von den Fluten überrollt wurden. Fernsehbilder von Menschen auf der Suche nach Angehörigen bewegen die Zuschauer in ganz Japan, so wie die Bilder der riesigen schwarzen Welle, die den Küstenstreifen unter sich begrub.

Obwohl der Schock den Menschen hier im Gesicht steht, lassen sie sich ihren Mut nicht nehmen. Disziplin und Ordnung in der Katastrophe sind beeindruckend. Die Einwohner organisieren sich selbst, bereiten an einigen Orten warme Mahlzeiten aus dem zu, was in den Restaurants noch vorhanden und brauchbar ist. Trinkwasser wird mit Tankwagen in viele Stadtteile gebracht. 1,4 Millionen Haushalte in und um Sendai sind ohne Wasser. Millionen Haushalte in der Region hatten bis Samstagabend auch keinen Strom. Der kommt nun langsam wieder. Die Regierung in Tokio kündigt an, dass es »Blackouts« geben werde, zeitweise Abschaltungen, um Energie zu sparen. Viele Industriebetriebe machen aus diesem Grund für einen oder mehrere Tage dicht, darunter Toyota und Honda.

Unglaublich gefasste Menschen

Vor den Geschäften in Sendai bilden sich am Sonntag lange Schlangen. Die Menschen warten unfassbar geduldig, in der Hoffnung, Lebensmittel zu ergattern. Denn die Versorgung bleibt kritisch. Erst am Sonntag wurden die Fernstraßen für Hilfstransporte geräumt. Erste Lieferungen treffen noch am selben Tag ein.

Auf der Suche nach Freunden erlebe ich in den Notlagern in den vielen Grundschulen der Stadt vor allem Gelassenheit, gegenseitige Aufmunterung. Decken und blaue Planen sind hier das Zuhause von mehr als 30 000 Einwohnern Sendais geworden. Menschen versammeln sich um die Fernsehgeräte, teilen die Lebensmittel. Viele bevorzugen diese Orte sogar wegen der Angst vor Nachbeben. Und die gibt es immer wieder. Bisher mindestens 150 wurden registriert, manche Experten sprechen sogar von 190. Viele dieser Beben erreichen die Stärke 7 auf der Richterskala.

Am dritten Tag nach dem bisher schwersten Erdbeben in der Geschichte Japans beginnt man zu ahnen, welche Ausmaße die Katastrophe hat. Am Sonntagmittag wurde die Stärke des Bebens offiziell auf 9,0 heraufgestuft. Fernsehbilder, die viele hier in Sendai wegen des Stromausfalls zum ersten Mal sehen, zeigen komplett zerstörte Dörfer und Städte in den Küstengebieten von Miyagi, Fukushima und Iwate. An Orten wie Minamisanrikucho im Norden Miyagis hat man den Kontakt zu 10 000 Menschen verloren – die Hälfte der Stadtbevölkerung. Stündlich steigen die offiziellen Angaben über die Zahl der Opfer. Am Sonntagnachmittag hieß es dann amtlich, das Beben und der Tsunami hätten 2100 Opfer gefordert. Mindestens. Nach UNO-Angaben sind bereits rund 600 000 Menschen evakuiert worden

Hoffnung geben da die Bilder von Geretteten, die von ihren Familien unter Tränen in die Arme genommen werden. An vielen Orten sind die Helfer jedoch noch gar nicht eingetroffen. Hunderte Menschen warten vielerorts auf Dächern weiter auf ihre Rettung. Inzwischen hat Japans Militär im vollem Umfang mit den Rettungs- und Bergungsarbeiten im Krisengebiet begonnen. Die Regierung hat am Sonntag die Zahl der Einsatzkräfte verdoppelt, auf nunmehr 100 000 Soldaten. Im Haushalt sind ohnehin 200 Milliarden Yen (1,7 Mrd. Euro) für Katastrophenschäden vorgesehen. Dabei wird es nicht bleiben.

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