Noch kein Sieg in Siegen

Seit 65 Jahren verweigert man in Südwestfalen einem Kommunisten, Antifaschisten und im KZ Ermordeten die Ehrung

  • Gabriele Oertel
  • Lesedauer: 7 Min.
Noch kein Sieg in Siegen

Der Vorgang füllt inzwischen eine ziemlich große Kiste. Joe Mertens zieht aus ihr eine um die andere Akte, in denen das Engagement von Generationen dokumentiert ist. Den ersten Anlauf von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) und KPD aus dem Jahre 1947, einen Antrag der DKP von 1987, die Aktivitäten einer parteiübergreifenden Initiative von 1997, die neuesten Anläufe der VVN vom März 2011. Dazwischen Fotos von Lesungen und Diskussionen, Reisen nach Buchenwald, Besuchen der Lagerarbeitsgemeinschaft Buchenwald-Dora in Südwestfalen sowie eine Mappe mit 1470 Unterschriften. Viel geduldiges Papier – seit fast 65 Jahren benutzt, um in Siegen eine längst überfällige und vom CDU-dominierten Stadtrat immer wieder verweigerte öffentliche Ehrung eines Sohnes der Stadt zu erstreiten.

Die eher unauffällige Tafel am Geburtshaus von Walter Krämer außerhalb des Stadtzentrums, das von Mertens gepflegte Grab unweit der Gedenkstätte für Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion auf dem Siegener Friedhof reichen ihm nicht. Joe Mertens will, dass die Stadt sich deutlicher zu Krämer, dem Kommunisten, Widerstandskämpfer und Buchenwaldhäftling bekennt, den die Nazis 1941 umgebracht haben. »Ein toller Typ« sei das gewesen, sagt der 39-jährige VVN-Sprecher. Dafür steht für ihn, den Ex-Punk und heutigen Kinder- und Jugendsozialarbeiter, nicht nur, aber auch die Geschichte von der Saalschlacht im Preußischen Landtag, wo Krämer mit notdürftigem Kopfverband den Nazis versprach, zwanzig von ihnen für jeden verletzten Genossen zu verprügeln. Krämer, der gelernte Schlosser, hatte sich im KZ autodidaktisch medizinische Kenntnisse angeeignet und als Häftlingsrevierkapo Mithäftlinge behandelt und sogar operiert – und damit zahlreiche Menschen gerettet. Er war auf medizinischem Gebiet offenbar so gut, dass einige SS-Leute lieber den kommunistischen Gefangenen als die KZ-Ärzte konsultierten. Selbst Buchenwalds Lagerkommandant Koch hatte seine Syphilis von Krämer behandeln lassen.

Joe Mertens hat sich – seit er in einer linken antiquarischen Buchhandlung das schmale Büchlein über Krämer eher zufällig erstand – viel mit dem Leben des Mannes aus seiner Region beschäftigt. Er weiß, dass dem als Arzt von Buchenwald in die Geschichte eingegangenen KZ-Häftling, Bruno Apitz mit seinem weltbekannten Roman »Nackt unter Wölfen« ein ewiges Denkmal gesetzt hat, weil er seinen Haupthelden, den Lagerältesten, Walter Krämer nannte. Und er weiß, warum Apitz das getan hat. Schließlich hatte Krämer im Lager nicht nur illegale Arbeit geleistet, geheilt und gepflegt. Er hatte sich geweigert, sowjetischen Kriegsgefangenen den tödlichen Stempel »Tbc-krank« aufzudrücken und hatte unter Verweis auf eine angebliche Seuchengefahr sogar die Schließung eines Sonderlagers für staatenlose Juden erwirkt. Grund genug für Yad Vashem, den Mann im Jahr 2000 als »Gerechter unter den Völkern« posthum zu ehren.

Aber immer noch kein Grund, in Siegen nachzuholen, was Jahrzehnte bewusst versäumt wurde. Noch bis in die Gegenwart hinein verweigern vornehmlich Konservative einer öffentlichen Ehrung ihre Zustimmung und verunglimpfen Walter Krämer wie gehabt als Kriminellen, weil er – einst freiwilliger Soldat bei der Kriegsmarine und später Teilnehmer am Kieler Matrosenaufstand – zu Ende des Ersten Weltkrieges in einem Offiziersdepot Lebensmittel gestohlen hatte. Während Mertens gerade zu Beginn der 90er geglaubt hatte, dass nach Ende des Kalten Krieges »eine unideologische Debatte« möglich sein würde und ein Neuanlauf in Sachen Krämer-Ehrung erfolgreich sein könnte, musste er erfahren, dass die Entwicklung eher gegenläufig verlief. Nicht nur eine vornehmlich medizinische Einrichtung, die zu DDR-Zeiten nach Krämer benannt war, hat sich nach 1990 des Namens entledigt.

Joe Mertens ist dennoch mitnichten frustriert. Der VVN-Sprecher nimmt im autonomen Kulturzentrum VEB das schon seit Jahren bereitstehende Schild von der Wand – und lässt keinen Zweifel daran, dass er erst Ruhe geben wird, wenn Siegen eine Walter-Krämer-Straße oder besser noch einen Walter-Krämer-Platz haben wird. Dafür hat das Mitglied der Linkspartei, der freilich bei den eigenen vier Ratsmitgliedern nicht lange agitieren musste, erst dieser Tage wieder Verbindung zur SPD- und Grünen-Fraktion aufgenommen und auch erneut beim CDU-Bürgermeister Steffen Mues auf der Matte gestanden. Bis zum 6. November – also zum 70. Todestag Krämers – wollen LINKE, SPD, Grüne, VVN und die Lagerarbeitsgemeinschaft Buchenwald-Dora in Siegen endlich Tatsachen schaffen. Ein wissenschaftliches Symposium soll stattfinden und irgendwo in der Stadt jenes Schild feierlich aufgehängt werden, das bislang im VEB »geparkt« ist.

Aber noch ist das Sektglas, das die Sichel kreuzt – Logo des Kulturvereins, dem Joe Mertens als Vorsitzender vorsteht – nicht zu füllen. Zugegeben, der Mann von der VVN hatte sich vom Bürgermeister erhofft, dass man jetzt zügig zu einer Lösung komme. Zum einen, weil der kürzlich vor laufenden Kameras gesagt hatte, die Verwaltung prüfe die Einsetzung einer historischen Kommission. Zum anderen, weil er den obersten Stadtvater eher für einen moderneren Konservativen hält, »mit dem sich reden lässt«. Und zum dritten, weil Mues für ihn erkennbar den »Krämer-Kram« endlich vom Tisch haben wolle. Doch aus der historischen Kommission wird offenbar doch nichts. Und ob Walter Krämer zum Jahresende eine Straße ebenso wie andere Siegener Antifaschisten – Sozialdemokraten, Kommunisten, Christen, Bibelforscher – im Neubaugebiet Giersberg-Ost bekommt, wie Mertens die mögliche Kompromisslinie sieht, steht in den Sternen.

Denn der Bürgermeister steht offenbar sehr unter dem Druck seiner Fraktion. Das musste auch ND erfahren. Die Anfrage nach einem Interview wurde zunächst freundlich entgegengenommen, später mit der Bitte um schriftliche Fragestellung in die Länge gezogen – und nach mehreren Telefonaten bis heute unbeantwortet gelassen. So können wir nur mutmaßen, ob die ND-Frage nach dem Antikommunismus in den eigenen Reihen Steffen Mues verschreckt hat oder die nach dem konkreten Termin der Ehrung Walter Krämers; ob der Bezug zur historischen Kommission oder der auf Yad Vashem ihm unangenehm war.

Eigentlich, meint Joe Mertens, hat Siegen Walter Krämer gar nicht verdient. Schließlich habe die Stadt sich immer schwer getan mit der NS-Vergangenheit. Hier flatterte bereits am 1. Februar 1933 die Hakenkreuzfahne überm Rathaus. Hier wurde Adolf Hitler erst 2007 offiziell die Ehrenbürgerwürde aberkannt, hier hatte man sehr lange keine Probleme mit Straßen, die den Namen ausgewiesener Antisemiten tragen. Womöglich Gründe für die neuen Nazis, alljährlich zum 16. Dezember einen »Opfermarsch« anzumelden – dem Jahrestag, der 1944 stattgefundenen britischen Bombardements. Dagegen hat sich 2008 ein Bündnis »Siegen für Demokratie« gegründet, das von CDU bis DKP reicht.

Dass derlei parteiübergreifendes Tun bei Walter Krämer nicht möglich sein soll, will nicht nur Joe Mertens nicht begreifen. Deshalb sorgt er im Bunde mit den anderen 23 VVN-Mitgliedern in der Stadt, mit Linkspartei, DKP, SPD und Grünen, dem christlich-jüdischen Kulturverein, Gewerkschaften, Falken, dem Asta der Uni dafür, »dass die Stadt sich mit Krämer beschäftigen muss«. Früher habe den niemand gekannt, heute stehe der sogar schon in einem Stadtführer. »Der Kommunist Walter Krämer ist ein Teil unserer Geschichte, auf den wir stolz sein können«, sagt Mertens mit fester Stimme. Und setzt grinsend dazu: »Wenn wir schaffen, den in einer westdeutschen Provinzstadt zu ehren, wird das Strahlkraft haben.«

Anlässlich des 66. Jahrestages der Selbstbefreiung der Häftlinge des Konzentrationslagers Buchenwald wird das Internationale Komitee Buchenwald-Dora und Kommandos am Sonntag, dem 17. April 2011, ab 13.30 Uhr auf dem ehemaligen Appellplatz des KZ Buchenwald und anschließend am Glockenturm ein Gedenken – auch an Walter Krämer – durchführen.

In der Erklärung »Erinnerung bewahren – Authentische Orte erhalten – Verantwortung übernehmen«, die von Vertretern aller Internationalen Häftlingskomitees der KZ unterzeichnet ist, heißt es: »Nach unserer Befreiung schworen wir, eine neue Welt des Friedens und der Freiheit aufzubauen. Wir haben uns engagiert, um eine Wiederkehr dieser unvergleichlichen Verbrechen zu verhindern. Zeitlebens haben wir Zeugnis abgelegt, zeitlebens waren wir bemüht, junge Menschen über unsere Erlebnisse und Erfahrungen und deren Ursachen zu informieren. Gerade deshalb schmerzt und empört es uns, heute feststellen zu müssen:

Die Welt hat zu wenig aus unserer Geschichte gelernt. Gerade deshalb müssen Erinnerung und Gedenken weiterhin gleichermaßen Aufgabe der Bürger und der Staaten sein […] Wir bitten die jungen Menschen, unseren Kampf gegen die Nazi-Ideologie und für eine gerechte, friedliche und tolerante Welt fortzuführen, einer Welt in der Antisemitismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus keinen Platz finden dürfen.«

Seit 1947 kämpfen Menschen im südwestfälischen Siegen darum, dass ein Sohn ihrer Stadt, der Kommunist Walter Krämer, der als Arzt von Buchenwald in die Geschichte einging und von den Nazis 1941 ermordet wurde, öffentlich geehrt wird. Erfolglos bislang, weil die dort regierende CDU das blockiert. Doch die VVN in der 100 000-Einwohner-Stadt lässt insbesondere seit 1997 mit ihrer Initiative für einen Walter-Krämer-Platz nicht locker, pflegt sein Grab und trifft sich zu Geschichtsforen im unabhängigen, autonomen Kulturzentrum »VEB«, das mit Sichel und Sektglas Krämer alle Freude machen würde. Sie will noch 2011, sieben Jahrzehnte nach dem Tod des KZ-Häftlings, eine sichtbare Würdigung hinbekommen. Grüne, SPD, LINKE wären dafür – FDP und Unabhängige Wähler sind nicht mehr so abgeneigt wie früher. Aber offen ist, ob der CDU-Bürgermeister über den Schatten seiner Fraktion springt.
Seit 1947 kämpfen Menschen im südwestfälischen Siegen darum, dass ein Sohn ihrer Stadt, der Kommunist Walter Krämer, der als Arzt von Buchenwald in die Geschichte einging und von den Nazis 1941 ermordet wurde, öffentlich geehrt wird. Erfolglos bislang, weil die dort regierende CDU das blockiert. Doch die VVN in der 100 000-Einwohner-Stadt lässt insbesondere seit 1997 mit ihrer Initiative für einen Walter-Krämer-Platz nicht locker, pflegt sein Grab und trifft sich zu Geschichtsforen im unabhängigen, autonomen Kulturzentrum »VEB«, das mit Sichel und Sektglas Krämer alle Freude machen würde. Sie will noch 2011, sieben Jahrzehnte nach dem Tod des KZ-Häftlings, eine sichtbare Würdigung hinbekommen. Grüne, SPD, LINKE wären dafür – FDP und Unabhängige Wähler sind nicht mehr so abgeneigt wie früher. Aber offen ist, ob der CDU-Bürgermeister über den Schatten seiner Fraktion springt.
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