Auf schwimmender Grundlage

Boote, Häuser und ganze Inseln auf dem peruanischen Teil des Titicaca-Sees werden aus Totora-Schilf gebaut

  • Knut Henkel
  • Lesedauer: 6 Min.
Ein Mensch des Wassers: Luís Ocheda gehört der indigenen Gruppe der Urus an. Er berichtet Touristen, wie die Bewohner am Titicaca-See seit Jahrhunderten aus Schilf ihre Inseln bauen, wie sich das Leben auf dem See gestaltet und wovon sie heute leben.
Ein Mensch des Wassers: Luís Ocheda gehört der indigenen Gruppe der Urus an. Er berichtet Touristen, wie die Bewohner am Titicaca-See seit Jahrhunderten aus Schilf ihre Inseln bauen, wie sich das Leben auf dem See gestaltet und wovon sie heute leben.

Schon von weitem sind die hellen Punkte auf der glitzernden Oberfläche des Titicaca-Sees zu sehen. Die Wasseroberfläche des auf gut 3800 Meter über dem Meeresspiegel liegenden Sees schimmert wie glänzendes Metall im Licht der hoch stehenden Sonne. Langsam nähert sich das Boot den hellen Punkten, die peu à peu Konturen erhalten und alsbald als Inseln mitten auf dem See auszumachen sind. »Vierzig Inseln gibt es. Alle liegen auf dem peruanischen Teil des Sees«, erklärt Luís Ocheda.

Der Reiseleiter, ein Mann von Ende dreißig, kennt den riesigen See wie seine Westentasche. »Der See, so sagen die Urus, hat die Form eines Pumas, der ein Kaninchen fängt. Die Inka erkennen in der Form hingegen einen grauen Puma auf einem Felsen«, erzählt Ocheda. Aus dem Inka-Begriff Titi-Karka wurde im Laufe der Zeit dann Titicaca – Pumafelsen.

Urus heißt das kleine indigene Volk, das auf dem Titicaca-See lebt. Die schwimmenden Inseln, die Islas flotantes, sind deren traditioneller Lebensraum. Sie sind aus Totora, einer langlebigen Binsenart gefertigt. Aus dem Rohstoff, der direkt am Ufer des Sees wächst, fertigen die Urus nicht nur die Plattformen ihrer Inseln, sondern auch Boote und Häuser.

Immer näher kommt die Motorjacht den Inseln. Boote sind zu erkennen, die aber nicht aus Holz oder Metall gefertigt sind, sondern aus dicken geflochtenen Strohmatten. Und auch die Inseln sehen aus der Nähe betrachtet nicht sonderlich vertrauenserweckend aus. Luís Ocheda fordert die Reisegruppe auf, die Insel zu betreten, an der die Motorjacht aus der peruanischen Stadt Puno bereits festgemacht hat. Dann geht er mit gutem Beispiel voran und springt auf den Untergrund. Stabil, wenn auch ein wenig weich, scheint der Teppich aus Binsen zu sein, aus dem die Insel besteht. »Sorgfältig aufgeschichtet und am Grund fixiert, sind die Inseln«, erklärt der Touristenführer seinen Besuchern und kniet sich nieder, um anhand eines Modells das Prinzip zu erklären. Mehrere dicke, kreuzweise gelegte Lagen des am Titicaca-See wachsenden Totora-Schilfs bilden die Grundlage der am Seeboden fixierten Inseln. Die Lagen werden regelmäßig erneuert und so haben sich die Urus einen Lebensraum erschaffen, der einzigartig ist.

Bei Angriffen flüchteten die Urus auf den See

Dies geschah nicht ganz freiwillig. Die Urus drohten vor einigen hundert Jahren zwischen den kriegerischen Inka und den Aymara, die bis heute vornehmlich den bolivianischen Teil des Titicaca-Sees bewohnen, aufgerieben zu werden. Der ursprüngliche Lebensraum der Ethnie ist die Hochebene Collao. Sie liegt direkt am Titicaca-See, wo trotz der Hochlage Landwirtschaft möglich ist. Der riesige See, der 195 Kilometer lang und 65 Kilometer breit ist, ermöglicht dies. Zwar liegt die durchschnittliche Wassertemperatur bei nur zehn bis zwölf Grad Celsius, doch gleichwohl dient das Andenmeer als Wärmespeicher. So können rund um den See Kartoffeln, Mais und das Andengetreide Quinoa angebaut werden.

Deshalb war die Hochebene rund um den fischreichen See interessant für Inka und Aymara. Die Urus, zahlenmäßig deutlich unterlegen, verlegten sich stärker auf den Fischfang. Mit ihren aus Schilfmatten gefertigten Booten gingen sie auf die Jagd nach Fisch und anderen Seebewohnern. Irgendwann kamen sie dann auf die Idee mit den schwimmenden Inseln. Auf die zogen sie sich bei Bedarf zurück. Bei bevorstehenden Angriffen der einen oder anderen Seite lösten sie die Verankerung ihrer Inseln und zogen die Plattformen hinaus auf den See, um vor Überfällen gefeit zu sein. »Eine Strategie, die Erfolg hatte. So gelang es der Ethnie, ihrer Unterjochung zu entgehen und nicht wie andere Völker langsam im Inkareich unterzugehen«, erläutert Luís Ocheda.

Heute ist auf den schwimmenden Inseln längst die moderne Technik angekommen. In den Schilfhütten stehen Fernseher, und Solarpanels liefern Energie, um auch Kühlschränke und andere Elektrogeräte zu betreiben. Auf einer der beiden Hauptinseln der Urus befindet sich ein Supermarkt, es gibt eine Schule und auch einen modernen Verwaltungsbau, der ausnahmsweise nicht aus Totoramatten gefertigt ist.

Touristen können sich in schmucken Apartments aus dem Schilfgeflecht einmieten und sich einen Eindruck von den Lebensbedingungen auf dem See machen. Die sind nicht so einfach, denn nachts wird es empfindlich kalt und das einzige Brennmaterial liefert – wie sollte es anders sein – Totora.

Die gut daumendicken, zwei bis drei Meter hohen, dunkelgrünen Stängel haben einen dreieckigen Querschnitt mit stark gerundeten Ecken. Schon die Kleinen lernen mit dem Schilf umzugehen und selbst ihr Spielzeug ist in liebevoller Handarbeit daraus hergestellt. Dafür wurden die Stängel vorher eingefärbt.

Das Innere der Schilfart ist von Hohlräumen durchsetzt. Die abgeschnittenen, getrockneten und gebündelten Halme haben im Süßwasser des Sees einen hohen Auftrieb. Das ist die Grundlage für die vielfältige, wirtschaftliche Nutzung der Halme. Die stehen heute unter Naturschutz, um den Erhalt der Schilfgürtel zu garantieren und eine nachhaltige Nutzung der wichtigsten Ressource der Urus zu gewährleisten. Doch nicht nur die Urus verwenden die gebündelten Totora-Stängel zum Bau von Kanus und Flößen. Auch nordamerikanische Indianerstämme kennen diese Möglichkeit und im Norden Perus an den Stränden von Trujillo werden die Caballitos de Totora in der Küstenfischerei eingesetzt. Die schnittigen Boote, zu deutsch Schilfpferdchen, werden nach der Jagd auf die Meeresbewohner am Strand zum Trocknen aufgestellt. 2003 wurden sie zum nationalen Kulturgut erklärt.

Doch der widerstandsfähige Halm hat noch mehr zu bieten, erklärt der Reiseleiter und deutet auf eine junge Frau, die an einer Feuerstelle ein Essen vorbereitet. Frische Totora-Sprösslinge werden gerade geschält und ein süßlicher, nahrhafter Snack kommt zum Vorschein. Der ist bei den Kindern ausgesprochen beliebt. Die wachsen ohnehin mit dem Halm auf, wissen wie man erntet, welche Halme sich für welchen Zweck am Besten eignen und wie und wann man die Insel erneuern muss.

Rund drei Jahre hält so eine Insel, dann fault sie von unten her langsam durch. Das lässt sich durch das Auslegen neuer Totora-Bündel verhindern, aber irgendwann ist Schluss und ein Umzug steht an. Dabei helfen sich die Familien gegenseitig, die auf den vierzig Inseln, etwa eine halbe Fahrstunde von Puno entfernt, leben. Dann werden die großen Boote bepackt und der Hausrat von der alten zur neuen Insel überführt.

Traditioneller Baustoff – vielfältiger Einsatz

»Auch beim Bootsbau, großen Bauprojekten wie der kleinen Totora-Apartmentanlage für die Besucher, wird gemeinsam Hand angelegt«, erklärt eine der Uru-Frauen, die die Besucher mit einem der Schilf-Boote auf die Hauptinsel gondelt. Heute können die rund zwanzig Familien, die noch auf den Inseln wohnen, nicht mehr allein vom Fischfang leben. Längst ist der Tourismus zur wichtigsten Einnahmequelle geworden und der Souvenirverkauf spielt auf den Inseln eine zentrale Rolle. Handarbeiten aus Schilf, gewebte Stoffe und Schmuckstücke bieten die Urus feil.

Die sind ihrer eigenen Aussage zufolge sehr stolz auf ihre traditionelle Lebensweise und lehnen es ab, auf das Festland überzusiedeln. Aber im Hafen von Puno ist immer wieder zu hören, dass viele Inseln gegen Abend verlassen werden, weil die Familien längst eine Dependance besitzen, die nicht vom Süßwasser des Sees umgeben ist. Luís Ocheda ist selbst ein Uru, ein Mensch des Wassers, und hat das nasse Element mit dem trockenen getauscht. Kein Einzelfall, denn heute bietet die traditionelle Lebensweise nur noch wenige Optionen für die Familien auf dem See und bisher gibt es keine Perspektiven, das traditionelle Wissen der Urus über den Umgang und den Nutzen der Totora in ökonomisch tragfähige Projekte umzusetzen. Eine Herausforderung für die Zukunft. Bis dahin sind es Touristen, die die Islas flotantes über Wasser halten müssen.

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