Türöffnung kommt zu spät

Sachsens Wirtschaft erhofft wenig von Freizügigkeit ab 1. Mai

  • Hendrik Lasch, Bärenstein
  • Lesedauer: 3 Min.
Ab 1. Mai können osteuropäische Arbeitnehmer ohne Genehmigung in Deutschland arbeiten. Zu spät, klagt Sachsens Wirtschaft, der Fachkräfte fehlen. Die Gewerkschaften warnen derweil vor billigen Leiharbeitern.

Am Sonntag in einer Woche werden auch im Erzgebirge die Türen geöffnet: Just zum Tag der Arbeit gilt die Freizügigkeit für osteuropäische Arbeitnehmer auch in der Bundesrepublik. Doch vor den Türen wird kaum jemand stehen, befürchtet Michael Lohse, Präsident der IHK Chemnitz: »Die gut qualifizierten Tschechen, die im Ausland arbeiten wollten, sind längst fündig geworden.« Die Bundesrepublik wäre schlauer beraten gewesen, wenn sie die Grenzen eher geöffnet hätte: »Den Kampf um die besten Köpfe haben wir verloren.«

Als am 1. Mai 2004 Tschechien und andere osteuropäische Länder der EU beitraten, sorgte man sich nicht um fehlenden Zuzug, sondern vor einem Zustrom. Während Länder wie Großbritannien sofort die Freizügigkeit zuließen, nutzen Länder wie Deutschland eine auf höchstens sieben Jahre befristete Übergangszeit. Nun dürfen auch Arbeitnehmer aus acht weiteren EU-Ländern ohne Genehmigung hierzulande arbeiten. Im Kammerbezirk würden wohl höchstens 2000 Tschechen in deutschen Betrieben anheuern, sagt Lohse.

Gebrauchen könnte man mehr, betonte Gerhard Rohde, Chef der Arbeitsagentur Annaberg-Buchholz, bei einer vom DGB Südwestsachsen organisierten Konferenz in Bärenstein. Rohde rechnet vor, dass von 107 000 Beschäftigten im Erzgebirge schon ein Drittel über 50 Jahre alt ist, die Schulabgängerzahlen aber dramatisch gesunken sind. Als Folge fehlen Fachkräfte. »Wir könnten froh sein über jeden Bewerber«, sagt Rohde, dessen Amt Anzeigen über freie Stellen regelmäßig auch jenseits der tschechischen Grenze schaltet. Er fügt hinzu, eigentlich müssten im Erzgebirge überall Tafeln stehen: »Herzlich willkommen!«

Weder stehen Begrüßungsschilder an den Straßen noch sei in anderer Form rechtzeitig und ausreichend um Fachkräfte geworben worden, sagt Markus Schlimbach, der Vize-Chef des DGB Sachsen. Er wirft Landes- und Bundesregierung vor, keine »Willkommenskultur« entwickelt zu haben, und attestiert auch Unternehmen, sich nicht gut auf die Freizügigkeit vorbereitet zu haben. Die Sprachbarriere ist weiterhin hoch; in der Regel wird darauf gebaut, dass die Tschechen Deutsch sprechen. Zudem sei unklar, ob Bewerbungen aus dem Ausland sachkundig beurteilt werden könnten, sagt Schlimbach.

Während gut ausgebildete Facharbeiter also inzwischen anderswo in Europa angeheuert haben oder aber in Tschechien zu zunehmend steigenden Löhnen arbeiten, sehen Gewerkschafter Schattenseiten der Freizügigkeit vor allem im Niedriglohnsektor. Schlimbach befürchtet, dass Leiharbeitsfirmen aus Osteuropa nach Deutschland kommen. Diese könnten etwa bei mittleren Zulieferern der Autoindustrie zum Zuge kommen, wo dann gar eine »Dreiteilung« der Belegschaft drohe – zwischen Stammkräften sowie in- und ausländischen Leiharbeitern. Reagiert werden müsse auch auf die ebenfalls ab 1. Mai geltende Dienstleistungsfreiheit, die es Firmen erlaubt, zu den Bedingungen ihrer Heimatländer auf den Markt zu drängen. Schlimbach rechnet mit Dumpinglöhnen vor allem in Branchen, in denen es bislang keine Mindestlöhne gibt, etwa der häuslichen Pflege. Gewerkschafter fordern deshalb gesetzliche Mindestlöhne. Zudem müsste die Einhaltung bestehender Regelungen kontrolliert werden. »Dass die Kontrolleure dazu in der Lage sind«, sagt Schlimbach, »sehe ich bis jetzt nicht.«

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal