Doppelter Absturz des tapferen Schneiderleins

Vor 200 Jahren versuchte Albrecht Ludwig Berblinger in Ulm über die Donau zu fliegen und blamierte sich schrecklich

  • Andreas Steidel
  • Lesedauer: 5 Min.
Doppelter Absturz des tapferen Schneiderleins

Den Ulmern stank es gewaltig, dass sie nun württembergisch waren. 1810 hatten sie nach einem Gebietstausch ihre Zugehörigkeit zu Bayern verloren, die Rolle als Provinzhauptstadt eingebüßt und obendrein noch die Stadtteile südlich der Donau abgeben müssen. Aber man würde es diesem neuen König schon zeigen. Und so kam es gerade recht, dass die Stadt seit kurzem eine echte Sensation zu bieten hatte: Ein Schneidermeister hatte zu fliegen gelernt, war mit zwei selbstgefertigten Schwingen auf dem Michelsberg von Gartenhäuschen zu Gartenhäuschen gesegelt, leicht wie ein Vogel und war doch nur ein Mensch. Damit würde man den König sprachlos machen.

Am 30. Mai 1811 kam Friedrich I. von Württemberg zu seinem Antrittsbesuch nach Ulm. Tausende von Menschen säumten die Donau und warteten auf den magischen Moment, bis August Ludwig Berblinger über den Fluss fliegen würde. Vier Wochen lang hatte er seinen halbstarren Hängegleiter in einem Gasthof ausgestellt vollmundig erklärt, dass es nicht den geringsten Zweifel am Gelingen geben könne.

Und nun stand er da: Mit zitternden Armen und Beinen und dem komischen Gefühl, dass etwas nicht funktionieren würde. Die Luft war anders und der Wind nicht da. In letzter Minute zog er zurück und machte dafür einen gebrochenen Flügel verantwortlich. Doch es war zu spät. Die Stadtväter und das Königshaus wollten Taten sehen und drängten den Schneider am nächsten Tag zu einem neuerlichen Flugversuch. Zwar war der König schon abgereist, aber er hatte seinen Bruder als Kronzeugen zurückgelassen und dem Schneider obendrein 20 Louis d’or als Vorschuss gegeben. Am 31. Mai um 16 Uhr stieg Berblinger abermals aufs Podest. Und spürte erneut, dass der für ihn günstige Wind fehlte. Nach minutenlangem Zögern sprang er schließlich doch, ob aus eigenem Antrieb oder weil ihn ein Gendarm auf Befehl von oben gestoßen hatte, lässt sich heute nicht mehr genau sagen. Sicher ist nur: Berblinger rauschte ohne auch nur einen Meter geflogen zu sein direkt in die Donau. Blamierte sich und seine Stadt bis auf die Knochen. Ließ den königlichen Antrittsbesuch zur Farce werden und die Stadt zum Gespött im ganzen Land. Das würde man dem hochstaplerischen Schneider nie verzeihen.

Stadtführer Alexander Hacker wird fast melancholisch, wenn er die Geschichte vom tragischen Absturz Albrecht Ludwig Berblingers erzählt. Wenn er auf der Adlerbastei steht und die Flugbahn beschreibt, die der Unglücksrabe zurückgelegt hat. Wie dumm! 80 Jahre später sollte Otto Lilienthal mit derselben Technik der Durchbruch gelingen.

Berblingers Problem war, dass er von den Gesetzen der Thermik keine Ahnung hatte. Er wusste nicht, dass ihn auf dem sonnigen Michelsberg die Aufwinde trugen, während ihn an der kalten Donau die Fallwinde hinunterzogen. Als man 175 Jahre später mit ähnlichem Fluggerät abermals den Versuch wagte, über die Donau zu gleiten, schaffte es ein einziger bis ans andere Ufer.

Am 31. Mai 1811 stürzte der Schneider von Ulm nicht nur mit seinem Fluggerät, sondern auch gesellschaftlich ab. Keiner wollte mehr von ihm ein Gewand kaufen, mit ihm reden oder sich für ihn einsetzen. Als er 1829 starb, war er spiel- und alkoholsüchtig, ausgezehrt und arm. Die Frage nach einer Grabstelle muss der Stadtführer abschlägig beantworten, Berblinger wurde 1829 anonym an unbekannter Stelle verscharrt.

Zahlreich sind hingegen die Zeugnisse des Spotts, den über ihm ausgeschüttet hatte. So wie im Foyer des Ratskellers, wo hinter einer Bronzefigur des Schneiders der Spruch hängt »D’r Schneider von Ulm hat’s Fliega probiert, no hot’n d’r Deifel en d’Donau nei g’führt«.

Alexander Hacker führt seine Schneider-Gesellen zuerst ins Ulmer Münster: Hier wurde Berblinger 1870 getauft und zweimal verheiratet. Ein schweres Leben eines Waisenjungen, der mit 13 Jahren wider Willen Schneider lernen musste. Mit 21 war er schon Meister und konstruierte nebenher Kinderwagen, Chaisen und Schlitten. 1809 gelang ihm sogar die Herstellung einer bis dahin unbekannten Gelenkprothese. Doch auch bei dieser Erfinderleistung blieb dem Hochbegabten die offizielle Anerkennung versagt.

Es sollte noch 100 Jahre dauern,

bis der Ulmer Ingenieur und Schriftsteller Max Eyth ein Buch herausbrachte, das den Pionier der Lüfte rehabilitierte. Das ihn als einen Mann würdigte, der 200 Jahre zu früh gelebt hatte. Eben jener Zeitraum, den es 2011 zu feiern gilt: Berblinger würde sich vermutlich in dem nicht näher bekannten Grabe herumdrehen und ein wenig gequält lächeln, wenn er wüsste, welche Ehre ihm heute zuteil wird: Berblinger-Flugwettbewerbe, Berblinger-Stadtführungen, Berblinger Kunstausstellungen, Berblinger-Musical. Zwei neue Bücher wurden veröffentlicht und bereits 1998 der wissenschaftliche Nachwuchspreis der Deutschen Gesellschaft für Luft- und Raumfahrtmedizin nach ihm benannt. Schon in den fünfziger Jahren hatte Bertold Brecht ihm ein Gedicht gewidmet und 1978 Edgar Reitz einen ganzen Spielfilm.

Was aus seinen Schwingen genau wurde, ist unklar: Irgendwo auf einem Dachboden sollen sie verrottet sein, peinliche Überbleibsel einer Witzfigur, von der man erst heute weiß, welch bahnbrechende Erfindung ihr wirklich gelungen ist.

  • Infos: Ulm/Neu-Ulm Touristik, Münsterplatz 50, Telefon (0731) 161 28 30, www.tourismus.ulm.de, www.berblinger.ulm.de.
  • Hier gibt es auch das komplette Jubiläumsprogramm und Übernachtungspauschalen ab 59 Euro.
  • Stadtführungen: Bis Mitte Juni kann man auf den Spuren des Schneiders wandeln (5. Mai, 16.30 Uhr, 7. Mai, 14.30 Uhr, 11. Mai, 17 Uhr, 21. Mai, 14.30 Uhr, 1. Juni, 17 Uhr, 4. Juni, 14.30 Uhr, 15.Juni, 17 Uhr). Treffpunkt Stadthaus Münsterplatz, Dauer zwei Stunden, Kosten 8,50 Euro. Die Tour ist auch als Gruppenführung buchbar
  • Jubiläumswochenende mit zahlreichen Veranstaltungen in der ganzen Stadt vom 27. bis 29.Mai
  • Literatur: »Ulmer Flugpioniere 1811 bis 1911« von Wolf-Dieter Hepach und Wolfgang Adler (2010) und der Berblinger-Roman »Fallwind« von Johannes Schweikle (2011).
Ulm an der Donau ist einen Besuch wert.
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