Wegsuche am Faulbach

Kölner Selbsthilfe-Organisation sieht sich als Pfadfinder zu einer solidarischen Gesellschaft

  • Marianne Walz
  • Lesedauer: 4 Min.
Während Gelehrte, Politiker und Medienmacher sich seit Jahrzehnten wortreich über Krisenerscheinungen des Arbeitsmarktes, des Sozialstaates oder der Ökosysteme auslassen, antwortet die Sozialistische Selbsthilfe Mülheim (SSM) auf die Herausforderung mit einem gelebten kreativen Praxismodell. Seit über 30 Jahren stellt sie sich dem humanistischen Anspruch, Menschen ein selbstbestimmtes, ökologisch verantwortungsvolles und von Demütigungen freies Leben zu ermöglichen. Die SSM behauptet sich nach außen auf dem lokalen Marktsegment der Umzüge und Wohnungsauflösungen. Im Inneren der zurzeit 20 Mitglieder starken Gemeinschaft zählen Solidarität, faire Arbeitsteilung und das kollektive Verfügen über Gemeineigentum.
Mitglieder der SSM vor ihrer Halle am Rheinufer
Mitglieder der SSM vor ihrer Halle am Rheinufer

Wer das Gegenmodell zum Hochleistungskapitalismus entwirft, schafft sich naturgemäß mächtige Widersacher. Die Sozialistische Selbsthilfe Mülheim (SSM) in Köln ging aus jenen alternativen Kommunen hervor, die nach den Aufbruchsjahren aus Hausbesetzungen und Protestaktionen Ende der sechziger Jahre zum Beispiel gegen menschenrechtswidrige Jugendheim- und Psychiatriepraxis entstanden waren. Seit 1979 bietet ihr Hof auf dem Gelände einer ehemaligen Schnapsbrennerei in der Düsseldorfer Straße in Köln Wohn- und Arbeitsstätten für Mut- und Sinnsucher, für Familien, Kinder, Alte und Behinderte, Wohnungslose, Unangepasste und andere vom Arbeitsmarkt Verdrängte.

Die Aktiven der SSM um Ranne Michels, Rainer Klippe und Heinz Weinhausen haben es verstanden, ihre emanzipatorisch-revolutionäre Idee und Praxis seit 1979 immer wieder zu verteidigen – in den westdeutschen Wirtschaftswunderphasen ebenso wie in Krisenzeiten. Inzwischen ist die SSM Mietvertragspartnerin der Stadt Köln für die Immobilie im noblen Wohn- und Gewerbegebiet und lebt ihr Konzept »Neue Arbeit« vor. Es beinhaltet das Rücknehmen der Entfremdung in der Arbeit. »Jede und jeder soll nicht nur Geld verdienen, sondern auch Eigenarbeit machen und sich im Stadtteil oder für neue Projekte engagieren«, erklärt Heinz Weinhaus. »Jedes Mitglied ist krankenversichert und bekommt ein Taschengeld an Grundsicherung. Sonderbedarf wie kostenpflichtige Zahnkronen, Brillen oder auch ein Extra-Nutzungsrecht der gemeinsamen Räume zum Beispiel für Musikproben diskutieren und beschließen wir in der Gruppe.«

Arbeit soll im marxistischen Sinne freie, von Erwerbszwang gelöste Tätigkeit sein. Reinhard etwa hat angefangen, in einem der Gebäude Doppelfenster zu schreinern und einzubauen. Rainer schreibt an seinem Aufsatz zu »Lokaler Ökonomie«. Ranne kümmert sich um die Gestaltung von Hof und Gelände. Heinz betreut die Computer.

Allmorgendliches Meeting

Für ihr Konzept brauchen die Sozialismus-Pioniere Geldmittel, die sie für Dienstleistungen bei Umzügen und Wohnungsauflösungen erhalten: Ihr Lkw – gebraucht beschafft und weitgehend selbst instand gehalten – holt, liefert und befördert Möbel und andere Gebrauchsgegenstände, Kleidung und Hausrat, welche dann repariert, recycelt, verkauft oder für den eigenen Bedarf genutzt werden. Neue Errungenschaft ist ein großzügiger Meditations- oder Tagungsraum in der hellen oberen Etage des alten Fabrikgebäudes mit angeschlossenen Gästezimmern. Geheizt wird überwiegend mit Abfallholz. Die Organisation der Arbeit – ob Geld verdienen mit den Umzügen und dem Kleiderladen oder Kinderbetreuen und Versorgung der Gruppe – wird allmorgendlich ausgehandelt. Wöchentlich findet eine große Sitzung für mittel- und langfristige Planungen statt.

Reibungs-, verlust- und konfliktfrei läuft das keineswegs. Zum selbstbestimmten Miteinander gehöre aber diese angstfreie Weise zu lernen, dass Absprachen und Zusagen einzuhalten sind, sagt Heinz Weinhausen. Der 52-jährige ehemalige Krankenpfleger ist einer der Köpfe in der SSM.

Rechtzeitig haben die SSMler vorgesorgt, dass Einkünfte aus dem umkämpften Markt der Wohnungsauflösungen nicht das einzige Standbein bleiben. Ausgerechnet die Arges – für Weinhausen und Gleichgesinnte Teil der »Armutsindustrie« – mit ihren rechtswidrig subventionierten Ein-Euro-Jobs zugunsten der Marktkonkurrenten bescherten der SSM zwischenzeitlich beinahe das wirtschaftliche Aus.

In zähen Verhandlungen erstritten die SSMler die zum Abbruch vorgesehene bauhistorisch wertvolle Fabrikhalle »Am Faulbach« zunächst als Mietobjekt. Dann wurde die Halle saniert. Nutzungsvergütungen für die Halle als Veranstaltungsraum sowie das Café nahe der Rheinpromenade sollen dringend benötigte Mittel einbringen.

Zum dreißigjährigen Bestehen der SSM 2009 gratulierten überschwänglich nicht allein die städtischen Repräsentanten, sondern auch Kirchenvertreter und Parteien bis hin zur FDP, letztere wohl wegen des praktizierten Subsidiaritätsprinzips, sprich wegen der eingesparten Sozialtransfergelder.

Ihre sozialistische Marschrichtung »gegen die Verbetriebswirtschaftung der Gesellschaft«, und für konsequente ökologische und wirtschaftliche Nachhaltigkeit behalten die Aktiven auch im vierten Jahrzehnt des Bestehens der SSM bei. Wer einsteigt, weiß, dass er sich künftig mit noch Gebrauchsfähigem statt Life-Style-Erzeugnissen umgeben wird und Dinge nutzt, die die zerstörerische Hochleistungsgesellschaft in immer schnelleren Wachtums-Wegwerfzyklen ausstößt. Für freiwilligen Konsumverzicht bietet die SSM ihren Mitgliedern den Gewinn an selbstbestimmt verbrachter Zeit.

Und Ärzte oder Ingenieure?

Stationen ihrer Wegesuche zum Sozialismus haben die Pfadfinderinnen dokumentiert. Die Plakate, Broschüren, Handzettel und kämpferischen Schriftwechsel widerspiegeln eine Identität, welche die SSM von Vereinen der bürgerlichen oder kirchlichen Wohltätigkeit klar unterscheidet. Noch fehlen schlüssige Antworten auf Fragen nach dem Einbringen auch hoch spezialisierter Arbeit: Wird die Solidargemeinschaft Bestand haben mit Ärzten oder Entwicklungsingenieurinnen, die regelmäßig beim Entladen des Lkw helfen, aber keinen privaten Pkw fahren sollen?

Die bisherigen SSM-Erfahrungen, als sozialistische Keimzelle zu überleben, stehen zum Nachnutzen bereit. Eine Mitmachwoche bietet Neugierigen die Gelegenheit, probeweise in ein entschleunigtes Leben jenseits von Luxus, Statussymbolen und Leistungszwang einzutauchen.

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