Willys visionslose Erbin

Sozialdemokratin Hannelore Kraft scheitert als Öko-Visionärin

  • Marcus Meier
  • Lesedauer: 3 Min.
Exakt 50 Jahre nach Willy Brandts von vielen als visionär empfundener Rede über den »Blauen Himmel über der Ruhr« versuchte Hannelore Kraft sich gestern ebenfalls als Öko-Vordenkerin. Die NRW-Ministerpräsidentin versprach gar eine Revolution – doch sie versank in Brandts übergroßen Schuhen.
Die Zeche Zollverein in Essen – hier verkündete Kraft ihre umweltpolitischen Vorstellungen.
Die Zeche Zollverein in Essen – hier verkündete Kraft ihre umweltpolitischen Vorstellungen.

»Wer Visionen hat, der sollte zum Arzt gehen«, wird Helmut Schmidt, Bundeskanzler bis 1982 und sozialdemokratisches Urgestein, nicht müde zu betonen. Zum Facharzt, ergänzt Schmidt mitunter. Sein Amtsvorgänger Willy Brandt sah das anders. So forderte Kanzlerkandidat Brandt Ende April 1961: »Der Himmel über dem Ruhrgebiet muss wieder blau werden!«.

Staub, Ruß und Schwefeldioxid verdunkelten den Himmel – und machten die Menschen krank. Ursache waren die »Exkremente der Industrie« (»Der Spiegel«), waren die Kohle- und Stahlunternehmen des Ruhrpotts, die beinahe frei von staatlichen Auflagen fröhlich vor sich hin produzierten. Brandt seinerzeit: »Erschreckende Untersuchungsergebnisse zeigen, dass im Zusammenhang mit der Verschmutzung von Luft und Wasser eine Zunahme von Leukämie, Krebs, Rachitis und Blutbildveränderungen sogar schon bei Kindern festzustellen ist.«

Brandt war heftigen Anfeindungen ausgesetzt: Seitens der Industrie, die erhebliche Mehrkosten befürchtete. Aber auch die eigenen Genossen griffen ihn an. »Kübel voller Hohn«, seien über ihn ausgekippt worden, beklagte Brandt sich später. Der Vorwurf: Er, Brandt, verspräche das Blaue vom Himmel.

Ziemlich genau 50 Jahre nach Brandts von vielen als visionär empfundener Rede lud die sozialdemokratische Friedrich-Ebert-Stiftung gestern in die (längst zum Industriedenkmal mutierte) Zeche Zollverein in der Ruhrstadt Essen. Das Thema klang ebenso traditionsschwanger wie visionserheischend: »Vom Blauen Himmel über der Ruhr zum Blauen Planeten«. Beflügelt haben mag die NRW-Sozialdemokratie wohl auch die Tatsache, dass die Grünen nun auch an Rhein und Ruhr Umfragewerte von 24 Prozent prognostiziert bekommen. Das Thema öko – es zieht. Derweil die Sozialdemokratie weit entfernt ist von früheren Wahlerfolgen von 45 und mehr Prozent.

Zum »ökologischen Strukturwandel in NRW« referierte Hannelore Kraft, ihres Zeichens NRW-Ministerpräsidentin. Und die Sozialdemokratin, unlängst von Parteichef Sigmar Gabriel als mögliche Kanzlerkandidatin bezeichnet, versuchte, sich in die Tradition Brandts zu stellen, sich gleichsam als dessen Erbin zu inszenieren. Wie Brandt müsse auch sie unter Zweiflern und Bremsern leiden, klagte sie. Zwar sei heute alles schwieriger als zu Brandts Tagen. Doch auch heute bräuchten »wir den Mut zu Visionen«. »Der Erfolg kommt mit langem Atem«, betonte sie. Das habe niemand Geringeres als Willy Brandt gezeigt.

Vollmundig kündete Kraft an: »Die ökologisch-industrielle Revolution des 21. Jahrhunderts geht von Nordrhein-Westfalen aus.« Gleichwohl, die Visionen der Ökonomin blieben blass: Kraft will eine »neue Dialogkultur« zwischen Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Bürgern etablieren, auch um »industrielle Großprojekte« weiterhin verwirklich zu können – ohne, so muss man wohl ergänzen, von Wutbürgern überrannt zu werden.

Und das Grundsätzliche? Zwar müsse man die »Visionen unterfüttern«. Doch dürfe man nicht einfach »große Ziele in den Himmel schreien«. Schließlich plädierte Kraft für einen »Mittelweg« aus ökologischem, sozialem und wirtschaftlichem Denken. Und forderte, dessen Ziele neu zu definieren. Anderseits: »Wenn wir da ins Detail gehen, dann beginnen die Diskussionen.«

Hört, hört! Nein, zum Arzt muss Kraft wohl nicht.

Derweil ist Willy Brandts Vision wahr geworden: Der Himmel über dem Ruhrgebiet ist blau. Dank technischem Umweltschutz, durch Filter und durch höhere Schornsteine, die den Dreck auf ein größeres Gebiet verteilten. Und ein Stück weit wegen des Zechensterbens der 1960er-Jahre – dem in den 1980er-Jahren die Stahlkrise folgte. Viele Schlote rauchen nicht mehr. Von mehreren hundert Steinkohlekraftwerken existieren noch fünf. Der Preis des »Strukturwandels« ist hoch – er schlägt sich in hohen Arbeitslosenquoten, Verarmung und Verödung ganzer Großstädte nieder.

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