Theaterpreis Berlin: Gotscheff und Co.

  • Gunnnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.
Dimiter Gotscheff
Dimiter Gotscheff

Nach den vielen Festreden dürfen die Geehrten auch etwas sagen. Samuel Koch erzählt von seinem kleinen Sohn, mit dem er im Theater war. Da sehen sie auf der Bühne eine befreundete Schauspielerin, die sitzt auf einem Stuhl und, so will es die Szene, wird beschimpft. Die Szene ist lang, die Augen des Jungen füllen sich immer mehr mit Tränen. Das ist nicht schlimm, beruhigt Koch seinen Sohn, die spielen das doch nur, die tun ihr nichts. Der Sohn: Aber das auf dem Stuhl ist sie doch wirklich!

Damit ist das Wesen des Theaters auf den Punkt gebracht. Und auch das dieser feierlichen Veranstaltung zur Verleihung des Berliner Theaterpreises an den Regisseur Dimiter Gotscheff und »seine« Schauspieler Almut Zilcher, Samuel Finzi und Wolfram Koch. Zweieinhalb Stunden dauert die Prozedur Sonntagmittag im Deutschen Theater. Und die, die den Anlass der vielen Worte bieten? Kommen ganz zum Schluss, als alle Worte längst verbraucht sind.

Draußen scheint die Sonne, die Berliner Polizei demonstriert (in Zivil) zur Abwechslung selbst einmal – für mehr Geld. Bürgermeister Klaus Wowereit steckt das eiligen Schrittes weg und lächelt nun drinnen mit den Preisträgern in die Fotoapparate. Da ist auch gleich der Hauptfeind erkennbar: die Routine, das leichthin gesprochene Wort, das zur immer passenden Floskel wird.

Bühnenbildner Mark Lammert spricht von den Geehrten als einer »schwebenden Vereinigung« von »Spielkameraden«, von denen jeder für sich jedoch »eine ganz eigene Farbe« sei. In dieser Rede – eines Heiner Müller würdig – funkelt es: Geist wird sinnlich. Lammert ist ein mit Farbe, Form und Linie den Raum wie einen unbekannten Kontinent erforschender Malerphilosoph, der das Glück hatte, Gotscheff zu treffen, der wiederum einen wie Lammert als konstitutiven Glücksfall für seine Inszenierungen empfindet.

Es sind lauter Glücksfälle der Begegnung, über die hier zu schreiben jeden Rahmen sprengen würde. Wie entsteht Kunst? Gottfried Benn sagt: durch »Gewaltakt in Isolation«. Man vergisst es fast, sieht man diese Vier, die jetzt so fröhlich-harmlos wirken, als fühlten sie sich in diesem »Paradies der Dauerredner« (Heiner Müller) heimisch, darin doch alles, was wahr ist, sich in Lüge verwandelt.

Und das ist das Grenzensprengende von Gotscheffs Theater: der fremde Blick auf die Verhältnisse, der doch, trotz aller Distanz nie ein kalter ist. Gotscheff, im bulgarischen Grenzland zwischen Griechenland und Balkan geboren, wird fortan die slawische Perspektive auf die Antike kultivieren. Keine Triumph-, sondern eine Leidens- und Liebesgeschichte.

1961 kam er mit seinem Vater, einem Tierarzt, in die DDR. Von der redet hier in hundertfünfzig Minuten übrigens niemand: Kein Osten ist seines authentischen Erinnerungsraumes gründlicher beraubt worden als derjenige Deutschlands. Das spürt man gerade an diesem Mittag am DT, diesem einstigen Ort dramatischer nationaler Selbsterkenntnisprozesse mit Mitteln des Theaters.

Gotscheff, der mit beharrlicher Kraft immer wieder Heiner Müller inszeniert, ist einer der wenigen, die von innen und außen zugleich auf Geschichte blicken und in all den Gewinnbilanzen Verluste anschaubar machen. Ein Störfall. Da klingt es alles andere als exotisch, nicht mal ironisch, wenn er von seinem »agrarischen Bulgartheater« spricht. Es klingt nach Arbeit, die sonst niemand macht. Er, der Büchner in Bulgarische übersetzte, der mit Heiner Müllers Texten die gegen jede Selbstbefragung abgepanzerte Gegenwart zu verwunden versteht: ein Sisyphus. Es ist schwer, fast aussichtslos, Wunden zu schlagen, denn die westliche Weltläufigkeit entzog sich fast ganz der Dimension des Schmerzes.

Wenn Samuel Finzi sich an die Zeit erinnert, als er 1990 in die sich auflösende DDR kam und als Osteuropäer mit jüdischem Familienhintergrund (der Vater ist in Bulgarien ein bekannter Schauspieler) zu denen gehörte, die man in dieser Zeit einer oft rüde betriebenen westdeutschen Machtübernahme nun gar nicht brauchte (nachzulesen in dem schönen Gesprächsband mit Michael Eberth im Verlag Theater der Zeit) – dann erkenne ich mich in vielen seiner Berliner Alltagsbeschreibungen wieder. Ostschicksale, gleich ob einer aus Plovdiv kommt oder aus Pankow: Es verbinden sie die Brüche, die ständige Missachtung, das ihnen entgegengebrachte Misstrauen, die Kränkungen, die man nur schwer, eigentlich gar nicht vergisst. Es ist wohl diese bleibende Distanz zu jeder sich selbst feiernden Gegenwart, die Gotscheff klarer blicken lässt, die ihn zu einem Flüchtling macht, dessen Exil die Theaterprobe ist.

Auch Wolfram Koch hat diesen Außenblick, er wuchs in Paris auf, und Almut Zilcher, mit Gotscheff verheiratet, entfloh der österreichischen Provinz. Haben all diese Fluchten je aufgehört? Kaum, sie findet jedesmal neu einen Ausdruck, in jeder Inszenierung bricht man wieder auf – und weiß nicht genau, wo man ankommen wird.

Es ist müßig, die Liste ihrer gemeinsamen Arbeiten aufzuzählen, erwähnt sei nur Jarrys »König Ubu« an der Volksbühne im Bühnenbild aus lauter Ballons, das Katrin Brack schuf, »Die Chinesin« nach Godard, für das Lammert ein ständig verwehendes Tuchwerk erdachte, oder »Der Mann ohne Vergangenheit« nach Kaurismäki am DT. Gotscheff und Bühnenbildner – ein ganz eigenes, ein elementares Thema. Kein Regisseur arbeitet so physisch, zugleich so transparent wie er. Keiner ist so naturhaft melancholisch und so randvoll mit Lebensfreude. Wer mit ihm spricht, lernt etwas über den Eros der Pause, den Grund allen Sagens im Schweigen. Das Wort, das befreit, ist ein magisches, dessen Geheimnis es zu hüten gilt.

»Ehrlich, Herr Decker ich verstehe Sie nicht«, antwortete mir Gotscheff einmal in einer öffentlichen Diskussion, und da saß ich dann und verstand mich plötzlich selbst nicht mehr. Das nennt man eine schöpferische Situation.

Samuel Finzi: Charmeur unter den Mephistophelischen. Er behandelt Weisheit wie Sonnenblumenkerne: was zum Kauen, aber auch zum Spucken. Die Augen, groß zum Durchblicken bestellt, verbergen aber auch gern alles brennend Erfasste und begreifend Erguckte hinter heiterem Geblinzel. Ein schlenzendes Gemüt, dem sich Güte auf Gauner reimt. Er kann durch einen Tschechow gehen, wie Eddi Arent einst durch einen Karl-May-Film ging oder einen Edgar-Wallace-Streifen – und er sieht dann auch so aus wie der. as
Samuel Finzi: Charmeur unter den Mephistophelischen. Er behandelt Weisheit wie Sonnenblumenkerne: was zum Kauen, aber auch zum Spucken. Die Augen, groß zum Durchblicken bestellt, verbergen aber auch gern alles brennend Erfasste und begreifend Erguckte hinter heiterem Geblinzel. Ein schlenzendes Gemüt, dem sich Güte auf Gauner reimt. Er kann durch einen Tschechow gehen, wie Eddi Arent einst durch einen Karl-May-Film ging oder einen Edgar-Wallace-Streifen – und er sieht dann auch so aus wie der. as
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