Wenn Zahlen farbig riechen

Wissenschaftler erforschen die neurobiologischen Grundlagen der Synästhesie

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 4 Min.

Was hatten der Komponist Franz Liszt, der Physiknobelpreisträger Richard Feynman und der Schriftsteller Vladimir Nabokov gemeinsam? Antwort: Alle drei waren Synästheten. Das sind Menschen, bei denen ein äußerer Reiz gleichzeitig zwei oder mehrere Sinneswahrnehmungen auslöst. Sie können also, um ein Beispiel zu geben, eine Farbe nicht nur sehen, sondern diese gegebenenfalls auch schmecken, riechen, fühlen. Oder hören. So weiß man aus Schilderungen von Betroffenen, dass diese beim Betrachten einer roten Ampel unwillkürlich den Klang einer (objektiv nicht vorhandenen) Klarinette vernehmen. Andere verbinden Wörter mit Geschmacksempfindungen oder Zahlen mit Gerüchen. Und obwohl im Prinzip alle Sinneseindrücke synästhetisch miteinander verschmelzen können, geschieht dies in der Realität mit unterschiedlicher Häufigkeit.

Über einen seltenen Fall berichtet der US-Neurologe Richard E. Cytowic. Er hörte im Haus eines Bekannten, wie sich dieser nach dem Essen beklagte: »Das Huhn schmeckte heute aber kugelförmig.«

Lange wurden Menschen mit solchen multisensorischen Empfindungen als »Spinner« oder »Wichtigtuer« abgetan. Inzwischen zweifelt jedoch niemand mehr, dass es bei Synästheten tatsächlich zu einer Sinnesverschmelzung kommt und diese nicht nur halluzinieren. Ein raffiniertes Experiment zum Nachweis dessen führten vor Jahren die US-Neurobiologen Edward Hubbard und Vilayanur Ramachandran von der University of California in San Diego durch. Sie ließen dafür auf weißem Papier eine lange Reihe von schwarz gefärbten Fünfen drucken, zwischen denen sich in unregelmäßigen Abständen schwarze Zweien befanden. Dann stellten sie Nicht-Synästheten die Aufgabe, die Anzahl der Zweien zu ermitteln. Wie erwartet, benötigten diese für die Lösung viel Zeit, die sich jedoch deutlich verringern ließ, wenn alle Fünfen in der Reihe rot und alle Zweien grün gedruckt waren. Anschließend wurde die Schwarz-Weiß-Version der Aufgabe Synästheten vorgelegt, und zwar solchen, die Zahlen mit Farben verknüpfen. Sie lösten das Problem ebenso rasch wie »normale« Personen die Farbversion der Aufgabe. Nach vielfacher Wiederholung des Experiments, welches immer das gleiche Resultat erbrachte, folgerten Hubbard und Ramachandran, dass Synästheten Zahlen wirklich als Farben wahrnehmen – und dies in konstanter Art und Weise.

Einen Schritt weiter noch gingen Jeffrey Gray und seine Mitarbeiter vom Londoner Institute of Psychiatry. Mittels bildgebender Verfahren untersuchten sie die Hirnaktivität von Synästheten, die gehörte Wörter mit Farben verbinden und denen man zu diesem Zweck verschiedene Wörter laut vorsprach. Tatsächlich wurde dabei nicht nur das Hörzentrum der Probanden aktiviert, sondern auch eine als »V4/V8« bezeichnete Hirnregion, die für das Farbensehen zuständig ist. Bei anderen Teilnehmern des Versuchs blieb die Region inaktiv.

Um es noch einmal zu betonen: Wenn ein Synästhet die geschriebene Zahl Fünf in ein helles Blau gehüllt sieht, geschieht dies gänzlich ohne sein Zutun und ist auch durch innere Anstrengung nicht zu unterdrücken. Allerdings ist die Synästhesie nicht umkehrbar. Vielmehr handelt es sich hier um einen typischen Einweg-Effekt. Das heißt, um bei unserem Beispiel zu bleiben: Wer die Zahl Fünf regelmäßig mit der Farbe Blau verbindet, verbindet Blau gewöhnlich nicht mit der Zahl Fünf.

Umstritten ist bis heute die Frage, wie viele Synästheten es in der Allgemeinbevölkerung gibt. Ihre Zahl dürfte deutlich höher liegen als noch vor einigen Jahren angenommen. Nach großzügigen Schätzungen sind bis zu fünf Prozent aller Menschen mehr oder weniger synästhetisch begabt. Synästheten im engeren Sinn findet man indes nicht so häufig. Vermutlich gibt es unter 200 bis 300 Menschen nur eine Person mit dieser Eigenschaft. Bei Frauen und Linkshändern sind es etwas mehr.

Bereits 1880 war dem britischen Naturforscher Francis Galton aufgefallen, dass Synästhesie in Familien gehäuft auftritt. Er schloss daraus, dass ihre Verbreitung erblich ist. Hält man sich hingegen an neuere Studien, dann wird allein die Disposition für Synästhesie teilweise vererbt. Nicht aber deren konkrete Form. Denn es gibt Familien, in denen ein Mitglied Wörter mit Gerüchen verbindet, ein anderes alle Wochentage farbig sieht und ein drittes nur beim Hören von Musik Farbempfindungen hat.

Wie aber kommt es überhaupt zu einer Sinnesverschmelzung? Offenkundig sind im Gehirn von Synästheten sensorische Regionen miteinander verbunden, die ansonsten eher separat arbeiten. Wie Edward Hubbard vermutet, entstehen die zusätzlichen »Verdrahtungen« hierfür bereits im Säuglingsalter und werden anschließend nicht wieder abgebaut. Auch deutet vieles darauf hin, dass eine synästhetische Verknüpfung bevorzugt zwischen relativ nahe gelegenen Hirnregionen stattfindet, etwa zwischen der Region für Buchstabenerkennung und jener für Farbwahrnehmung. Denn das könnte erklären, warum die Buchstaben-Farben-Synästhesie so häufig auftritt.

Konsequent wäre aus Hubbards Theorie weiter zu folgern, dass im Säuglingsalter noch alle Menschen synästhetisch veranlagt sind. Bei den meisten geht die Veranlagung jedoch rasch wieder verloren. Bei anderen bleibt sie ein Leben lang erhalten. Unter diesen, so fällt auf, gibt es überdurchschnittlich viele Dichter, Maler, Musiker und Architekten. Ob sich allerdings deren künstlerische Kreativität vorrangig aus ihren größeren sensorischen Möglichkeiten speist, ist eine Frage, über die man derzeit nur spekulieren kann.

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