Der Konstanzer »Gammlermord«

1970 rief am Bodensee ein NPD-Mann nach Bürgerwehren gegen »Asoziale«. Trotz eines Toten blieb der Stichwortgeber im Stadtrat

  • Holger Reile, Konstanz
  • Lesedauer: 7 Min.
Im kommenden August wird das Konstanzer Bodensee-Stadion wohl erneut aus allen Nähten platzen. Seit rund 25 Jahren findet dort das längst etablierte Musikfestival »Rock am See« statt, 25 000 Besucher werden erwartet. Konstanz freut sich auf die meist jugendlichen Festivalbesucher und die Stadt wirbt auch überregional mit dem Musikevent, das neben dem Seenachtsfest längst zum sommerlichen Highlight der Bodenseemetropole geraten ist. Doch so war das nicht immer – ein Rückblick.
Protestaktion nach dem Tod von Martin Katschker Fotos: Sammlung Holger Reile
Protestaktion nach dem Tod von Martin Katschker Fotos: Sammlung Holger Reile

Samstag, 29. August 1970: Der Tankstellenlehrling Martin Katschker (17) trifft sich mit Freunden am Konstanzer Blätzleplatz. Plötzlich kommt ein Mann auf ihn zu, drückt ihm einen Hasentöter auf die Brust und löst den Bolzen. Dreißig Minuten später ist Martin Katschker tot.

Konstanz kannte in den Wochen davor nur ein Tagesgespräch: »Gammler« in der Stadt! Schnell wurden die harmlosen Hippies zum Feindbild erklärt, und die Stimmung kochte hoch. Anlass war ein zweitägiges Popkonzert, das Mitte Juli 1970 im Konzil stattgefunden hatte. Am 20. Juli wollte Walter Eyermann, damals Stadtrat der rechtsradikalen NPD, in einer Gemeinderatssitzung wissen, »ob die Verwaltung bereit ist, den Gammlern das Konzil für weitere Veranstaltungen dieser Art zu sperren«. Und an den damaligen Oberbürgermeister Bruno Helmle stellte er die Frage, »welche Maßnahmen die Stadt durchführen will, um den Stadtgarten von diesen Figuren zu räumen«.

Eyermann hatte noch 1970 zusammen mit Adolf von Thadden den Landesparteitag der NPD im Konstanzer Konzil eröffnet. Bei der Gemeinderatssitzung am 20. Juli bot er an, die Säuberungsaktion selbst durchzuführen, »zu der ich mit Sicherheit mehr als vierzig Bürger dieser Stadt finde, die sich daran beteiligen«. OB Helmle, der wegen des Popkonzerts unter Druck geraten war, delegierte die Ordnungsgewalt unverblümt an den NPD-Mann: »Wenn Sie das machen, Herr Eyermann, bin ich einverstanden.«

Ein frisiertes Protokoll

Der damalige DGB-Kreissekretär und SPD-Gemeinderat Erwin Reisacher beurteilte das Geschehen so: »Die Formulierung des Oberbürgermeisters kann nicht anders denn als Aufforderung zur Bildung einer Bürgerwehr mit Lynchjustiz verstanden werden. In den Händen des Führers der NPD, W. Eyermann, wird diese gesetzlose Einrichtung zu einem unerträglichen und gefährlichen Instrument.«

OB Bruno Helmle bestritt später, derlei Äußerungen jemals gemacht zu haben. Die Angelegenheit war ihm so peinlich, dass er das Protokoll der Sitzung vom 20. Juli 1970 nachträglich ändern ließ. Die nachweislich gefallenen Äußerungen Helmles und Eyermanns sind in dem geänderten Protokoll nicht einmal mehr sinngemäß enthalten. Doch Eyermann bestätigte in einer Pressemitteilung an den »Südkurier« vom 31. Juli 1970 die in der Sitzung gefallenen Sätze. Gesagt habe er sie aber nur, um die Verwaltung unter Druck zu setzen, »die Stadt von den Gammlern zu befreien«.

»Südkurier« mischt mit

Eyermann ließ keine Gelegenheit aus, die Ressentiments gegen sogenannte Gammler und Hippies noch weiter zu schüren. Für den 7. und 8. August 1970 stand wieder ein Rockkonzert an und der NPD-Mann ließ in hoher Auflagenzahl ein Flugblatt in der Konstanzer Innenstadt verteilen, auf dem seine Meinung über die jugendlichen Pop- und Rockfans deutlich wurde: »... der Bürger muss sich gegen das arbeitsscheue und asoziale Gesindel der Berufsgammler auflehnen«. Im gleichen Flugblatt bezeichnete Eyermann den DGB als »Schutzpatron der Gammler«.

Das Ortsblatt »Südkurier« unternahm nichts, um die fehlgeleitete Diskussion auf eine vernünftige Ebene zu bringen. Die Kluft, die sich da auftat zwischen angeblich sauberen und anständigen Bürgern und den »langhaarigen, asozialen Elementen« wurde sogar durch verfälschte Berichterstattung vertieft. Angeblich, so der Südkurier am 21. Juli 1970, sei ein Konstanzer Bootsführer von einem »Gammler in den See gestoßen« worden. Tage später stellte sich heraus, dass es der Bootsführer war, der einen »Gammler« an den Haaren gepackt und ihn in den See geworfen hatte. Da, wo Verständnis hätte aufgebracht werden müssen gegenüber den Bedürfnissen der Jugendlichen, behandelte man diese wie bedrohliche Wesen von einem anderen Stern.

Obwohl es am 7. und 8. August ununterbrochen regnete, kamen etwa 10 000 Jugendliche zu dem Open-Air-Konzert. Die ursprüngliche Absicht der Veranstalter, das Festival im Bodensee-Stadion durchzuführen, stieß auf massiven Protest großer Teile der Bevölkerung und des Konstanzer Gemeinderats. Also stellte man den Veranstaltern das Klein-Venedig, direkt am Bodensee gelegen, zur Verfügung. Das Konzert verlief friedlich, es kam zu keinen nennenswerten Vorfällen. Nach dem Festival blieben einige Jugendliche in der Stadt und nächtigten am Blätzleplatz oder im Konstanzer Stadtgarten. Wo sollten sie auch sonst hin? Die Stadt beauftragte die Polizei, den Blätzleplatz in Zusammenarbeit mit den Stadtwerken und mittels Wasserstrahl von den herumliegenden Schlafsäcken und Jugendlichen zu »reinigen«.

Dann kam der 29. August 1970. Der Tankstellenlehrling Martin Katschker hatte an diesem Samstag bis in die Mittagsstunden an seiner Kreuzlinger Arbeitsstelle gearbeitet. Nachmittags traf er sich mit zwei Freunden am Konstanzer Blätzleplatz, dem damaligen Jugendtreff in der Hertiepassage.

Die drei Freunde saßen auf der Rückenlehne einer Bank, als der offensichtlich alkoholisierte, 38-jährige Druckereihilfsarbeiter Hans Obser mit gezücktem Hasentöter auf sie zu kam und sagte: »Ich bin von der Bürgerwehr und zähle bis drei, dann seid ihr verschwunden – oder es passiert was.« Dabei drückte er dem konsternierten Martin Katschker den Hasentöter auf die Brust.

Obsers 10-jähriger Sohn versuchte, seinen Vater wegzuziehen. Das gelang ihm nicht. Obser löste den Bolzen, der Martin Katschker mitten ins Herz traf. Etwa 30 Minuten nach der Tat verstarb der junge Lehrling im Konstanzer Krankenhaus. Ein bundesweites Medienecho folgte. »Spiegel« und »Stern« berichteten über die Bluttat, von einem »Gammlermord« war die Rede.

Eineinhalb Jahre nach dem Mord fand vom 14. bis zum 20. März 1972 vor dem Schwurgericht beim Landgericht Konstanz das Strafverfahren gegen Hans Obser statt. Der Vorwurf: Vorsätzliche Tötung. Obser erklärte vor Gericht, er sei zu dieser Tat von niemandem angestiftet worden und von der Stimmung in der Stadt gegen »die Gammler« habe er auch nichts gewusst. Er bezeichnete sich als »völlig unpolitisch« und lese nicht mal Zeitung. Er habe sich lediglich über die Gammler am Blätzleplatz geärgert.

Ein mildes Urteil

Die Tat bezeichnete Obser als das Ergebnis eines unglücklichen Umstandes. Als er Katschker den Hasentöter auf die Brust hielt, habe ihn sein Sohn am Arm gezerrt, dabei sei der Schuss gefallen. Der Sachverständige erklärte, bei Obser sei nach der Tat ein Blutalkoholgehalt von 2,33 Promille festgestellt worden. Das Urteil lautete: Drei Jahre Freiheitsstrafe ohne Bewährung wegen fahrlässiger Tötung und Nötigung. Die Zeit der Untersuchungshaft wurde auf die Strafe angerechnet. Der Staatsanwalt hatte vier Jahre beantragt.

In den meisten Pressekommentaren wurde das Urteil als zu milde empfunden. Viele sahen in Obser einen politischen Gesinnungstäter, aufgehetzt von rechtsradikaler Propaganda. Werner Birkenmaier von der »Stuttgarter Zeitung« schrieb damals dazu: »Die Konstanzer Justiz hat H. Obser freundlich behandelt (...) Linker Umtriebe Verdächtige müssen zur Zeit geringerer Delikte wegen ebenso lange oder länger als Obser in der Zelle auf ihren Prozess warten. Auch muss die Frage gestellt werden, ob Obser mit ebenso viel richterlicher Milde hätte rechnen können, wenn er nicht zu denen gehörte, die für die Ordnung eintreten (...) So viel Milde kann niemanden überraschen, nachdem das Gericht es einer 71-jährigen Zeugin nicht verwehrt hatte, ihren Unmut über die Jugend von heute abzuladen und sich beim Angeklagten für seine Tat zu bedanken. Es wäre jedenfalls verhängnisvoll, wenn die Gerichte in die Praxis zurückfielen, nach links hart und nach rechts milde zu sein.«

Eyermann bleibt

Walter Eyermann, geistiger Urheber der Tat, blieb unbehelligt. DGB-Chef Erwin Reisacher hatte zwar Strafantrag gegen Eyermann gestellt, der wurde aber abgelehnt. Die Staatsanwaltschaft Konstanz sah in den Aktivitäten und Äußerungen Walter Eyermanns keine zureichenden Anhaltspunkte für ein Vergehen der Volksverhetzung.

Eyermanns politische Karriere ist ein gern vergessenes Stück Konstanzer Stadtgeschichte. Nach dem Niedergang der NPD Anfang der siebziger Jahre war Eyermann Mitbegründer der »Bürgergemeinschaft Konstanz« (BGK), für die er dann als einziger in den Gemeinderat gewählt wurde. Über die NPD-Mitgliedschaft Eyermanns müsse man hinwegsehen, hieß es in den Reihen der BGK, »das ist ein fähiger Mann«. Auch andere in Konstanz hatten nichts auszusetzen an Eyermanns brauner Gesinnung: Er war langjähriger Geschäftsführer des Haus- und Grundeigentümervereins und stellvertretender Vorsitzender des gleichnamigen Landesverbandes.

Bei den Gemeinderatswahlen 1980 erhielt Eyermann die mit Abstand meisten Stimmen aller Bewerber, rund 22 000. Vor allem während der Amtszeit Bruno Helmles bis 1980, dessen OB-Wahl Eyermann vehement unterstützt hatte, galt er lange Jahre als der eigentliche Strippenzieher in der Konstanzer Kommunalpolitik.

Walter Eyermann lebt heute noch in Konstanz und hat sich aus der Tagespolitik längst zurückgezogen. Der Mord an Martin Katschker hat seiner Karriere nicht geschadet und ist in Konstanz längst vergessen.

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