Atomino und der General
Vom systemübergreifenden Irrtum, Herr der Natur zu sein
Atomino hieß eine lustige Comic-Figur, deren Abenteuer ab 1964 in der DDR-Kinderzeitschrift »Frösi« (Abkürzung für »Fröhlich sein und singen«) zu lesen waren. Atomino war ein Westimport. Das muntere Männchen mit dem Atommodell auf dem Bauch war von Marcello Argillin (Text) und Venicio Berti (Zeichnung) für die Kinderbeilage der Tageszeitung der IKP, »L'Unita«, zum Leben erweckt worden. In einer Zeit, als in Ost wie West Euphorie hinsichtlich ziviler Nutzung von Nuklearenergie herrschte, wovon auch das Atomium in Brüssel, Relikt der Weltausstellung 1958, zeugt. In der »Frösi« reflektierten sich Fortschrittsgläubigkeit und Technikwahn im Satz: »Rundherum blüht die Welt. Atominos Energie dient den Menschen.«
Natürlich war man nicht total naiv. Jedes Jahr im August wurde auch in der DDR der Opfer von Hiroshima und Nagasaki gedacht. Die »Frösi« belehrte ihre Leser, zu denen gewiss auch Angela Kasner gehörte, die spätere erste deutsche Bundeskanzlerin: »Atominos Energie ist gewaltig. Sie kann Wüsten fruchtbar machen, aber auch ganze Völker im Krieg töten.«
In der achten Folge der Abenteuer Atominos wurde dieser vom Herausgeber der »Übermorgenzeitung« gekidnappt, der die Welt erobern und zu diesem Zweck aus Atominos Energie Bomben bauen wollte. Professor Zacharias und dessen Tochter Smeraldina müssen ihren kleinen Freund aus den Händen des bösen Alcaps befreien: »Atomino soll den Menschen wieder helfen und nicht von einzelnen machtgierigen Kapitalisten gegen die anderen Menschen ausgenutzt werden.« Die Befreiungsaktion gelingt. Happy End. Happy End? Ist Atomenergie in den »richtigen Händen« sicher? Fukushima beweist einmal mehr, dass in Kernkraftwerken, die in Privathand sind, auch Sicherheitsbestimmungen dem Diktat der Profitmaximierung unterworfen werden. Tschernobyl wiederum widerlegt die These, im Sozialismus könne es zu keinen Störfällen kommen.
Der erste Atomreaktor der DDR ist am 16. Dezember 1957 im Beisein u.a. von Otto Grotewohl, Johannes Dieckmann und Kurt Hager angeschaltet worden. Fritz Selbmann betonte, dass in Rossendorf bei Dresden »nunmehr in Deutschland der erste wissenschaftlich nutzbare Reaktor in Betrieb genommen wird«. In München war man noch nicht so weit. Die Möglichkeit, dass »die DDR mit diesem ersten Reaktor die Tür zum Atomzeitalter öffnen kann«, so Selbmann laut damaligem ND-Bericht, »war nur durch die großzügige Unterstützung der Sowjetunion möglich, die uns eine zehnjährige Lücke in der Kernforschung überbrücken half und Teile der Ausrüstung lieferte«. Damit war elegant auf die aus Peenemünde und Berlin 1945 in die Sowjetunion ausgeflogenen deutschen Spezialisten verwiesen.
Der Reaktor in Rossendorf diente der Grundlagenforschung; er hatte eine Wärmeleistung von 2000 Kilowatt. Die DDR-Führung freute sich, nach der UdSSR, den USA und Großbritannien nunmehr den vierten Platz in der Welt bei der Erzeugung radioaktiver Isotope erobert zu haben: »110 verschiedene Arten werden von den Hexenmeistern an den Steuerpulten des Rossendorfer Reaktors gewonnen«, heißt es im 1960 im Verlag Neues Leben erschienenen Buch »Gigant Atom«. Neben atombetriebenen Eisbrechern und U-Booten werde es bald, so die Autoren, Atomflugzeuge geben, die durch die Stratosphäre jagen und Hunderte Passagiere rund um den Globus ohne Zwischenlandungen tragen. Die »Langhälse«, wie die Jets mit überlangem Bug zur Unterbringung der Reaktoren genannt wurden, blieben eine Fiktion auf dem Reißbrett.
Wie in Atominos Geschichten wurde auch in »Gigant Atom« prophezeit und beschworen: »Die Atomenergie beflügelt den Marsch der Menschheit in eine glückliche Zukunft und wird ein allmächtiges Unterpfand des Glückes sein – wenn wir ihren Mißbrauch verhindern. Denn auch die Möglichkeiten eines Mißbrauchs sind gigantisch. Sie sind schlechthin ungeheuerlich.« Missbrauch, vor allem zu kriegerischen Zwecken, wurde dem kapitalistischen Gesellschaftssystem zugeschrieben. Im Sozialismus, der Profitgier und Aggressionslust nicht kenne, wäre die friedliche Nutzung der Atomenergie garantiert. Hier würden durch Erkenntnis und gezielte Anwendung der Naturgesetze die stetig steigenden Bedürfnisse der (werktätigen) Menschen befriedigt, meinte man. Und berief sich auf Marx und Engels. Zu Recht? Jein.
In seiner Studie über den »Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen« (»Dialektik der Natur«, MEW, Bd. 20) schrieb Engels: »Kurz, das Tier benutzt die äußere Natur bloß und bringt Änderungen in ihr einfach durch seine Anwesenheit zustande; der Mensch macht sie durch seine Änderungen seinen Zwecken dienstbar, beherrscht sie.« Und im »Anti-Dühring« visionierte er, dass mit der Vergesellschaftung der Produktionsmittel und planmäßiger bewusster Organisation der Mensch endgültig aus dem Tierreich scheide und in ein wirklich menschliches Dasein trete: »Der Umkreis der die Menschen umgebenden Lebensbedingungen, der die Menschen bis jetzt beherrschte, tritt jetzt unter die Herrschaft und Kontrolle der Menschen, die nun zum ersten Male bewußte, wirkliche Herren der Natur, weil und indem sie Herren ihrer eigenen Vergesellschaftung werden.«
In mehreren Schriften von Marx und Engels findet man solche und ähnliche Passagen. Der »General«, wie der Fabrikantensohn aus Barmen (Wuppertal) von Marxens Familie und Freunden genannt wurde, warnte aber auch: »Schmeicheln wir uns indes nicht zu sehr mit unsern menschlichen Siegen über die Natur. Für jeden solchen Sieg rächt sie sich an uns. Jeder hat in erster Linie zwar die Folgen, auf die wir gerechnet, aber in zweiter und dritter Linie hat er ganz andre, unvorhergesehene Wirkungen, die nur zu oft jene ersten Folgen wieder aufheben ... Und so werden wir bei jedem Schritt daran erinnert, daß wir keineswegs die Natur beherrschen, wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht, wie jemand, der außer der Natur steht – sondern daß wir mit Fleisch und Blut und Hirn ihr angehören und mitten in ihr stehn.«
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