Radikal bis zum Ende gehen?

Der chinesische Künstler Ai Weiwei ist freigelassen worden

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 4 Min.
ND-Montage: W. Frotscher
ND-Montage: W. Frotscher

Der chinesische Künstler Ai Weiwei ist freigekommen. Eine Kaution hat es bewirkt. Er sei zudem chronisch krank, sagt der Staat. Im April war der Performancer, Kunst-Aktionist und Internet-Aktivist verhaftet und an unbekanntem Ort festgehalten worden. Vor allem unter Vorwürfen der Steuerhinterziehung. Er habe gestanden, heißt es nun offiziell. Aha, wird jetzt mancher sagen: Da gesteht einer endlich sein ökonomisches Vergehen, jetzt zerstiebt das westweit hochgeputschte Gebäude aus politischen Anremplern gegen China.

Dissidenz erfährt Solidarität oder aber Ablehnung durch die Selektionskräfte jeweiliger Gesinnungen. Auch an Ai Weiwei scheiden sich Geister. Vorstellbar: Der durch Geschichte gedemütigte Altkommunist oder der von Erfahrung noch nicht geknetete Jungavantgardist oder jener sich grundsätzlich im Westen Fremdfühlende, der im roten China eine letzte Bastion des eigenen Ideals sieht, das in Europa von Mehrheitspraxis zerwühlt wurde – sie alle mussten in den Monaten, in denen der Künster als verschollen galt, offenbar viel Überwindungskraft aufbringen. Kraft nämlich, um diesem frechen, frivolen, ausschweifenden, närrischen, sinnspottenden, amerikagetränkten und arroganten Freiläufer wider das Geregelte eine gewisse Grundmenge Toleranz, gar Sympathie entgegenbringen zu können. Weltweite Empörung über die Verschleppung des privilegierten Prominenten warf nämlich auch die Frage auf nach jenen vielen unbekannten Dissidenten oder, noch drängender, nach jenen Systemleidenden in der Kapitalwelt, die ebenfalls gegen herrschende Verhältnisse aufbegehren, aber deren Los ohne anklagende, solidarische Publizität bleibt. Und: Man müsse doch, in der Ferne lebend, überhaupt vorsichtig sein mit Urteilseinwürfen in chinesische Richtung. Man wisse schließlich viel zu wenig.

Das ist richtig, aber ... Solche Mahnung bleibt ein seltsames Entrüsten just aus altlinker Gemütskolonie, die in ihrer eigenen Geschichte doch nichts gründlicher betrieb als die Pflege von Mythen und Märtyrern. Ach, wenn diese angemahnte Vorsicht des Ab-Urteils doch immer Maßstab sein dürfte, überall, auf jeder der Frontseiten, wo Zurechtweisung durch Weltanschauungsinquisition geschieht. Ein Weltfriedensplan dies.

Aber selbst wenn diese Urteilsvorsicht allgemein gelten würde – sie hat mit den Regeln eines heilsamen politischen Realismus zu tun, der dann nicht mehr so ohne Weiteres akzeptiert werden darf, wenn ein künstlerischer, regimekritischer Eigensinn unterm Gewaltmonopol eines Staates gedrückt, zerdrückt wird. Und was dabei jene besondere Sendkraft von Prominenz betrifft, die stets auch eine zwielichtige Blendkraft besitzt: Wir brauchen diese Prominenz. »Niemand«, so die »Süddeutsche Zeitung« jüngst, »kann sich mit den Details eines großen Unrechts auseinandersetzen, kann zu Schlüssen und moralischen Urteilen kommen, wenn es sich nicht in seiner unmittelbaren Umgebung zugetragen hat.« Das sei keine Frage der Medienwelt. »Das Böse brauchte schon immer eine Fratze … Genauso wie die Geschundenen ein Gesicht brauchten.«

Ai Weiwei ist ein solches Gesicht. Dieser Name ist künftig nicht mehr nennbar, ohne dass die Zwickmühle des Staates – zwischen seiner Soft-Power-Strategie der Öffnung und parteibedingter Linienhärte – ihr Knirschen mitschickt. Es wird einem stoisch, in lächelnder Traditionsmaske agierenden System nicht mehr gelingen, selbst sein unbestreitbares Recht staatlicher Ordnungspolitik vom grundsätzlichen Makel der Geistesverfolgung zu trennen.

Man darf kopfschüttelnd anfragen, warum solch dauerndes, sich im Falle Ai Weiwei so zuspitzendes Marketing-Ungeschick des Staates nicht vermieden werden kann. Ja, Ungeschicktheit ist vermeidbar. Aber wenn es nun Wesensart ist? Die Verkündigung, Ai Weiwei sei krank, er sei geständig, er habe zu schweigen über die Haftzeit und die Modalitäten seiner Entlassung – all dies jedenfalls löst ungute geschichtliche Assoziationen aus, die tief in bekannte Strukturen führen.

Die Welt ist bis in letzte Ecken bespickt mit chinesischen Produkten, die Welt zahlt gut dafür, aber sie zahlt auch mit der kleinen, abgeschabten, unbeliebten baren Münze des Insistierens: gegen die Verschleppung eines Hauptprotagonisten der chinesischen Kunstszene, gegen elf Jahre Knast für einen Friedensnobelpreisträger, und somit auch gegen die Unterdrückung aller, die der Normierung einer Kollektivgesellschaft ihre Sehnsucht nach Meinungsfreiheit entgegensetzen.

Der Maler Norbert Bisky schrieb in der FAZ: »Marktwirtschaft minus Meinungsfreiheit klingt nach einem perfekten System. Schaffen, kaufen, Schnauze halten. Auch hier in Europa findet das mancher richtig prickelnd. Sehr mutige Menschen haben sich vor zwei Jahrzehnten im piefigen Ostblock nicht einschüchtern lassen und die allmächtige Partei das Fürchten gelehrt. Zusammen mit dem Druck von außen hatte das dazu geführt, dass ich pünktlich zum neunzehn-

ten Geburtstag ein selbstbestimmtes Leben beginnen und Künstler werden konnte. Glückliche Fügung? Sollte ich mich jetzt zurücklehnen und still genießen?«

Jeder wahre Künstler vertritt gegen das System, in dem er lebt, eine Magie des Extrems, der keine staatliche Gewalt gewachsen ist. Fortschritt ist Befreiung durch neue Erkentnisse – Dissidenz ist Befreiung durch das uralte Mittel der Erkenntniskritik. Es war der Sozialist Georg Lukács, der schrieb: »Wenn etwas einmal problematisch geworden ist, so kann das Heil nur aus der äußersten Zuspitzung, aus einem radikalen Bis-zu-Ende-Gehen entspringen.« Dazu sind offenbar beide entschlossen: Ai Weiwei und der Staat. Der Staat wird gewinnen, klar. Aber die Dissidenz, welche Namen sie auch tragen mag, wird der Sieger sein. In China und anderswo.

Falsches, richtiges Leben: Auch für Ai Weiwei hätte es eine Alternative gegeben (unten).
Falsches, richtiges Leben: Auch für Ai Weiwei hätte es eine Alternative gegeben (unten).
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