Die Trillerpfeifen sind verstummt
Eine Zwischenbilanz der Tarifrunde 2011
Die Gewerkschafts-Symbolik hat in der Krise doch arg gelitten: Die roten Fahnen, die grellen Plastikwesten, die schrillen Trillerpfeifen und die markigen Transparente – all das war in Zeiten der Krise selten zu sehen. Nachdem die Wirtschaftskraft in Deutschland 2009 um fast fünf Prozent eingebrochen war, rangierte die Jobsicherheit vor hohen Lohnforderungen. Moderate Tarifabschlüsse waren die Folge. Inzwischen hat sich der Wind gedreht und verleiht den Gewerkschaften wieder neuen Schwung. Das Wort »Nachholbedarf« ist im Zuge der Erfolgsmeldungen öfter zu hören. Doch die bisherige Bilanz der Tarifrunde 2011 zeigt noch keine klare Linie.
Dabei stehen die konjunkturellen Vorzeichen klar auf volle Fahrt voraus: »Der ökonomische Hintergrund hat sich grundlegend geändert«, sagt Reinhard Bispinck, Tarifexperte in der gewerkschaftlichen Hans-Böckler-Stiftung. Nachdem das Bruttoinlandsprodukt (BIP) 2010 um 3,6 Prozent angezogen hatte, versprechen die Experten auch für das laufende Jahr übereinstimmend ein Plus über der Drei-Prozent-Marke. Das erhöhe natürlich auch die Erwartungen für die Tarife, meint Bispinck.
Der Trend lasse sich an den hohen Forderungen der Tarifrunde 2011 bereits ablesen. Den Vogel schoss dabei die Chemische Industrie ab: sieben Prozent sollte es für die 550 000 Mitarbeiter der Branche geben – 4,1 Prozent bei 13 Monaten Laufzeit wurden es am Ende. Bei den 700 000 Beschäftigten am Bau kam im Frühling nach einer 5,9-Prozent-Forderung ebenfalls ein solides Plus herum: In zwei Stufen gibt es diesen und nächsten Sommer Zuwächse, bei einer Laufzeit bis Ende März 2013.
Lohnzuwachs und Inflation
Auch in kleineren Branchen wurden im Vergleich zu den Krisenzeiten hohe Abschlüsse vereinbart, etwa bei der Deutschen Bahn, der Telekom oder jüngst im Einzelhandel einiger Bundesländer. Die Messlatte hänge nun klar höher, sagt Bispinck. Für den Tariffachmann haben die bloßen Zahlen aber eine Schattenseite: die Inflation. Die Verbraucherpreise sind stark angestiegen und verharren seit etlichen Wochen jenseits der Zwei-Prozent-Marke, über der die Währungshüter die Preisstabilität gefährdet sehen. Dieser Preisdruck schmälert auch das beste Lohnplus empfindlich, was die Bilanz der Tarifrunde 2011 belastet. »So richtig wachsen da die Bäume noch nicht in den Himmel«, resümiert Bispinck.
Europas oberster Währungshüter, EZB-Chef Jean-Claude Trichet, warnt schon seit Monaten vor möglichen Dominoeffekten aus Preisdruck und Tarifplus. Seine Angst: Die Inflation treibt die Lohnforderungen, was Firmen auf die Verbraucherpreise aufschlagen könnten – womit sich am Ende auf breiter Basis eine Lohn-Preis-Spirale in Gang setzt.
Fakt ist, dass die derzeit noch laufenden Tarifverhandlungen große Erwartungen haben: Die Druckindustrie mit ihren 160 000 Beschäftigten beispielsweise will 5,5 Prozent mehr Geld. Auch bei den rund 850 000 Gebäudereinigern (Mindestlohnzuwächse), für Hunderttausende Verkäufer im Einzelhandel (teils 6,5 Prozent) und bei den 175 000 in der Versicherungsbranche (sechs Prozent) läuft die heiße Phase.
Für wichtige Gebiete stehen die Verhandlungen in der zweiten Jahreshälfte noch an – etwa für die Maler und Lackierer, weitere Handwerksbereiche und das Hotel- und Gaststättengewerbe. Für viel mediale Aufmerksamkeit sorgen zudem – wenn auch mit eher wenigen Beschäftigten – die streikenden Lokführer bei den Regiobahnen und die Fluglotsen, bei denen eine Urabstimmung über Streiks läuft.
Harte Tarifrunden erwartet
Doch den sprichwörtlichen »kräftigen Schluck aus der Pulle« sieht Hagen Lesch die Arbeitnehmer 2011 nicht trinken. Der Tarifexperte vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln schätzt: »Die Gewerkschaften können froh sein, wenn sie dieses Jahr einen Reallohnausgleich hinkriegen.« Die Bundesbank rechnet für das laufende Jahr mit einem Verbraucherpreisanstieg um 2,5 Prozent.
Auch Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt warnt vor überzogenen Erwartungen: »Es muss berücksichtigt werden, dass die Schuldenkrise in mehreren europäischen Ländern die wirtschaftliche Erholung nach wie vor bedroht. Auch ist noch nicht zu beurteilen, welche Folgen die überstürzte Energiewende haben wird«, sagt der Chef der Arbeitgeber.
Sollte die befürchtete Delle aber ausbleiben und die Wirtschaft wie erwartet weiter aufblühen, könnte das tarifliche Zugpferd der Metall- und Elektroindustrie das Lohntempo noch einmal erhöhen. Die Runde für Deutschlands wichtigsten Industriezweig startet im Frühling 2012. Das für Tarifpolitik zuständige IG-Metall-Vorstandsmitglied Helga Schwitzer rechnet mit einer harten, konfliktreichen Runde.
Die Gegenseite, den Arbeitgeberverband Gesamtmetall, lässt das derzeit noch kalt. »Der Tarifvertrag läuft erst in neun Monaten aus. Es ist viel zu früh, darüber zu spekulieren, welche Forderungen die Gewerkschaft dann stellen könnte«, sagt ihr Sprecher Martin Leutz. Die verstummten Trillerpfeifen scheinen noch eine Weile zu schweigen.
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