»Ich verstand nichts von Physik«

Anna Seghers besucht Albert Einstein

  • Renate Hoffmann
  • Lesedauer: 3 Min.

Der Physiker Albert Einstein (1879-1955) besaß nicht nur den genialen Tiefblick in das Universum; er bewies auch Weitblick in irdischen Kreisen. Vertrat er doch die Meinung: »Die Beschränkung der wissenschaftlichen Erkenntnisse auf eine kleine Gruppe von Menschen schwächt den philosophischen Geist eines Volkes und führt zu dessen geistiger Verarmung.« Sprach's und gab am 26. Oktober 1931 im überfüllten Saal der Marxistischen Arbeiterschule (MASCH) Berlin Auskünfte über Wissenswertes zur Relativitätstheorie.

Diese Bildungseinrichtung – 1925 von Hermann Duncker gegründet und bis zu ihrer polizeilichen Schließung 1933 breitenwirksam angenommen – führte große Namen im Vorlesungsverzeichnis (1931): Hanns Eisler, Egon Erwin Kisch, Ludwig Renn, Erwin Piscator, Bruno Taut, Walter Gropius ... und Albert Einstein, der das Semester in diesem Jahr mit seinem Vortrag eröffnete.

Das geschah nicht von Ungefähr. Es bedurfte achtsamen Vorgehens, um den Gelehrten von Weltruf zur Lesung vor einem großen Zuhörerkreis zu bewegen. Albert Einstein scheute die Öffentlichkeit. Zum Astronomen Friedrich Simon Archenhold sagte er: »Ich bin es müde, überall als symbolischer Leithammel mit Heiligenschein zu fungieren.«

Andererseits wusste man um Einsteins glänzende Art, komplizierte Denkprozesse einfach und eingängig darzustellen. Der Hörer musste sich am Ende einer Vorlesung fragen, weshalb ihm, zum Exempel, die Prinzipen der Relativitätstheorie nicht selbst eingefallen waren. – Diesen Dozenten galt es zu gewinnen.

Derzeit leitete der Soziologe Johann Lorenz Schmidt (alias Lászlo Radványi) die MASCH. Ein kluger Taktierer, bat er seine Frau – Anna Seghers (1900-1983) – diesbezüglich bei Albert Einstein vorzusprechen. Sie fuhr nach Caputh, unweit von Potsdam, und suchte ihn in seinem abgelegenen Sommerhaus, Waldstraße 7, auf. Die Seghers berichtete darüber; freimütig und ein wenig im Zweifel, ob und wie sich das Gespräch mit dem Mann, von dem alle Welt sprach, entwickeln würde. »... ich verstand nichts von Physik«, schreibt sie, »und schon gar nichts von Relativitätstheorie. Ich hatte zwei kleine Kinder und steckte außerdem bis über die Ohren im Schreiben von Geschichten.«

Auf sein Fortschrittsdenken bauend, trägt sie ihre Bitte vor, erzählt engagiert vom Anliegen der Marxistischen Arbeiterschule, einer Bildungseinrichtung für Bildungsbenachteiligte. Der Wissenschaftler hört aufmerksam zu ... und gibt mit einem Kopfnicken sein Einverständnis. – Freude bei Anna Seghers, Ärgernis bei Elsa Einstein. Da habe er nun verkündet, keine Vorträge mehr anzunehmen – und was geschähe jetzt? Das sei etwas grundsätzlich anderes, erwidert Albert E., diese Hörerschaft mache ihn neugierig. Basta!

Die Entscheidung war gefallen. Man wechselte das Thema und unterhielt sich weit ab von den Höhen der modernen Physik; » auch über den Wald und den See«, erinnert sich die Schriftstellerin. Sie erhält eine Einladung zum Mittagessen. Es bleibt ihr im Gedächtnis, dass Einstein wohl eine Vorliebe für Gurkensalat besaß. Er verspeiste ihn genüsslich.

Anna Seghers bewegte im Weggehen der Gedanke, dass Frau Einstein ihren Mann vielleicht nachträglich ausgeschimpft haben könnte. Wegen der Zusage. Wer weiß ...

Ungeachtet dessen sprach am 26. Oktober, abends 20 Uhr, Albert Einstein zum Thema: »Was der Arbeiter von der Relativitätstheorie wissen muß.« Er hielt seinen Vortrag frei und verstand es mühelos, mehr als 300 Gäste anderthalb Stunden lang zu fesseln. Im Anschluss daran wurden viele Fragen gestellt, die er geduldig beantwortete.

Renate Hoffmann ist Autorin von Feuilletonbänden sowie von Büchern zur Kulturgeschichte, wie »Luise. Königin der Preußen«.

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