Nudeln statt Kartoffeln

Die Stasi und die Grenztruppen der DDR im Schlüsseljahr 1961

  • Stefan Bollinger
  • Lesedauer: 4 Min.

Am 23. März 1961 berichtete das Ministerium für Staatssicherheit den Stellvertretenden Ministerrats-Vorsitzenden Willi Stoph und Grete Wittkowski sowie dem Vorsitzenden der Plankommission Bruno Leuschner über die Versorgungslage in der DDR. Diese sei beispielsweise für Speisekartoffeln »nicht restlos bis zum Anschluss an die neue Ernte gesichert«. Deshalb hätten Werkküchen und Gaststätten verstärkt Nährmittel, sprich Nudeln, einzusetzen. Auch Schweinefleisch, Butter und Milchprodukte seien rar. Zu Ostern und zu den Jugendweihe-Feiern würden Edelspirituosen und Sekt fehlen. Dies könnte »zur Unzufriedenheit unter der Bevölkerung führen«. Tröstlich schien den Berichterstattenden immerhin: »Direkte provokatorische Handlungen im Zusammenhang mit den aufgezeigten Versorgungsschwierigkeiten sind nicht bekannt geworden.«

Bekanntlich wusste das MfS fast über alles Bescheid, was in der DDR geschah. Wissenschaftler des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes haben begonnen, die Berichte des MfS an die DDR-Obrigkeit zu editieren. Neben den Zeugnissen aus den Jahren 1976 und 1988 liegt jetzt auch eine Veröffentlichung von Berichten aus dem Schlüsseljahr 1961 vor. Die vielfach in der Mainstream-Literatur herangezerrten Vergleiche von MfS-Berichten mit den Meldungen des Sicherheitsdienstes der SS im Nazi-Reich werden von der Bearbeiterin dieses Bandes verworfen. Für Daniela Münkel geben erstere »in komprimierter Form objektive Problemlagen von Gesellschaft, Politik und Ökonomie« wieder, wenn auch mit »spezifischem Tunnelblick« und »ideologisch bedingten Wahrnehmungsverzerrungen«. Sie konstatiert für Stasi-Berichte »eine Art Tiefenbohrung in die Gesellschaft, geprägt von der geheimdienstlichen Sicht, die vor allem darauf bedacht war, politisch abweichendes Verhalten und sicherheitsrelevante Probleme aufzudecken und zu neutralisieren«.

Tatsächlich berichteten die DDR-Staatsschützer über Versorgungsmängel, schlechte Jugendarbeit, Störungen in der Produktion, Streiks und die verschiedenen Motive zur Republikflucht. Zu den hier publizierten Dokumenten gehören minutiöse Lageberichte zur Absicherung der Aktion »Rose«, der Grenzschließung am 13. August 1961 in und um Berlin. Vermerkt werden negative Stimmungen in der Bevölkerung und Widerstandshandlungen sowie Grenzdurchbrüche und die ersten Grenztoten.

Beim Studium der Berichte fragt man sich, warum seinerzeit keine öffentliche Diskussion der benannten Probleme und Missstände gewagt wurde. Hätten die beklagten Übel nicht durch demokratisches Engagement der Bürger behoben werden können? Der mitbestimmende, wirklich mitregierende Bürger wie Genosse wurde jedoch als Sicherheitsrisiko eingeschätzt. Das Sicherheitssystem wurde ausgebaut und weiter perfektioniert – Ausdruck des Unwillens und Unvermögens des stalinistischen Systems, demokratische Rechte und Pflichten zu gewähren und zu sichern. Man stützte sich lieber auf die »Tschekisten« als auf die in der Propaganda vielbeschworene »herrschende Klasse« der Arbeiter und Bauern.

Das nach dem 13. August 1961 weiter zunehmende hypertrophierte Sicherheitsbedürfnis der SED-Führung forderte MfS wie Grenztruppen heraus. Der Militärhistoriker Jochen Maurer legte jetzt in der neuen Reihe des Ch. Links Verlages »Beiträge zur Geschichte von Mauer und Flucht« eine lesenswerte, überaus detailversessene Studie über die Grenztruppen im Raum Berlin vor, insbesondere zum Grenzregiments 33. Der Autor hat sich nicht nur in die Aktenbestände vertieft, sondern auch Zeitzeugen befragt und Stimmungen eingefangen. Das ist gut so. Eine Beschränkung auf Akten ergibt stets ein einseitiges Bild. Akten wirken wie ein Brennglas, das die problematischen Seiten ins Riesenhafte vergrößert. In die Berichte des MfS wie auch anderer Überwachungsorgane, etwa bei den Grenztruppen, flossen weniger positive denn negative Nachrichten ein. So bilden sie eine ideale Datenbasis, um Vorurteile über die DDR zu verstärken und werden daher auch gern von Medien und Politikern ausgeschlachtet. Dabei bleibt die Frage offen, warum Millionen Bürger nicht mit dem Gedanken an Republikflucht spielten, bereit waren, Dienst an der Grenze abzuleisten oder auch die Sicherheitsorgane zu unterstützen. Gewiss taten sie dies nicht nur aus Angst vor Repression oder Anpassung.

Trotz solider Arbeit entgeht auch Maurer nicht der Sensationshascherei. Seine Darlegungen über die Aufgaben der DDR-Grenztruppen im Konfliktfalle entlarven den Außenstehenden. So etwa wusste seinerzeit jeder Genosse Student an der Humboldt-Universität zu Berlin die regelmäßig zu Semesterbeginn innerhalb der »Roten Woche« von Oberstleutnant Ganßauge gemachte Äußerung, die NVA sei bei Befehl in der Lage, innerhalb von 80 bis 90 Minuten Westberlin zu besetzen, richtig einzuordnen – nämlich als Propaganda. Und jeder DDR-Bürger, der in der NVA gedient hatte, wusste ebenso, dass die Grenztruppen im Kriegsfalle die undankbare und aussichtslose Aufgabe hatten, bis zum Heranrücken der 1. Staffel der Streitkräfte des Warschauer Vertrages auszuharren.

Natürlich wäre Westberlin nur ein Nebenschauplatz in einem Krieg der Blöcke gewesen, aber ein Sicherheitsrisiko im Rücken der Warschauer-Vertrags-Truppen. Zu bedenken ist, dass im Juli 1961 Ex-Außenminister Dean Acheson dem US-Präsidenten ein Memorandum vorgelegt hatte, das für eine Krisenentschärfung Konzessionen hinsichtlich einer Einstellung von Spionage und Subversion von Westberlin aus für möglich hielt wie auch den Verzicht, dort Atomsprengköpfe zu lagern. Auf dieses brisante Detail hatte Rolf Steininger in seinem Standwerk »Der Mauerbau« (2001) aufmerksam gemacht. Der Mauerbau hat die Kriegsgefahr gebannt, aber die DDR-Führung nicht zu einer wirklichen Reformierung des Realsozialismus getrieben.

Daniela Münkel (Hg.): Die DDR im Blick der Stasi 1961. Die geheimen Berichte an die SED-Führung. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. 322 S., geb., mit CD, 29,95 €.

Jochen Maurer: Dienst an der Mauer. Der Alltag der Grenztruppen rund um Berlin. Ch. Links Verlag, Berlin. 440 S., geb., 29,90 €.

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