Diese Enge!

Im Kino: How I ended this summer

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 3 Min.

Inseln haben ihre eigenen Gesetze. Man kann immer geradeaus am Ufer entlang gehen und läuft doch im Kreis – das ist die Unendlichkeit des Eilands. Von allen Punkten aus blickt man aufs Meer, es gleicht in seiner Einförmigkeit der Ewigkeit er Zeit. Insel-Themen sind per se philosophisch – auch in »How I ended this summer« von Alexej Popogrebski (»Wie ich das Ende dieses Sommers erlebte«).

Doch manchmal wendet sich die Betrachtung über Unendlichkeiten von Raum und Zeit zum Kriminalfall. So in diesem beachtlichen russischen Film, der auf der Berlinale 2010 für Aufsehen sorgte.

Ein kurzer Sommer am Polarkreis. Das Meer ist meist eine gefrorene Eisdecke; ob das Schiff, das einmal im Jahr Proviant bringt, auch durchkommt, weiß vorher niemand. Die Insel mit der Forschungsstation, in der in diesem Polar-Sommer zwei Männer mit ihren Messungen beschäftigt sind, gleicht Gericaults Gemälde »Das Floß der Medusa« – die Schiffbrüchigen sind die letzten Zeugen einer versinkenden Zivilisation.

Zwei Männer allein auf einer Insel in der Arktis – sie könnten nicht verschiedener sein: Sergej, der Ältere, hat in der Einsamkeit seine Zuflucht gefunden, er lebt gern hier draußen im rauen Klima, geht fischen, danach in die Sauna – außerdem ist er ein durch nichts zu erschütternder Pflichtmensch mit Familie zu Hause in Russland. Mit den Messungen nimmt er es akribisch genau. Pawel dagegen, jung, unstet, weichlich, kommt sich hier völlig verloren vor. Er spielt den ganzen Tag am Computer, die Messungen sind ihm egal. Er wartet nur darauf, endlich wieder wegzukommen. Zwei Generationen, die Welten trennen. Es herrscht ein Art Waffenstillstand zwischen ihnen.

Doch dann weitet sich das Generationenporträt zu etwas Unerklärlichem. Der Ausnahmezustand tritt ein, als Pawel per Satellitentelefon die Nachricht bekommt, dass Sergeis Familie tödlich verunglückt ist. Er findet keine Sprache für die Botschaft, unterschlägt sie einfach – plötzlich ist etwas Gefährliches in der Luft. Der richtige Zeitpunkt für die schreckliche Wahrheit ist längst verpasst, nun kann es nur noch Missverständnisse geben – und die Insel ist kein guter Ort für zwei Männer, die sich gegenseitig verdächtigen. Und schon sehen sie im jeweils anderen einen tödlichen Feind, es beginnt ein Krieg, den sie selbst nicht verstehen.

Popogrebski filmt das auf eine hinreißend epische Weise: die Weite des Meeres, das sich langsam, aber stetig in Eis verwandelt, die Möwen, ein erster Eisbär, die leerstehenden Gebäude der einstmals großen Station, dazwischen der giftige Zivilisationsschott und das Energiezentrum der fast völlig verlassenen Station – eine Atombatterie. All das fließt in einem großen Gesamtbild zusammen, in dem dieses fesselnde Kammerspiel der Angst aufgeführt wird. Welch Enge ist plötzlich in der Weite! Wer hier wen weswegen jagt, scheint mysteriös. Die Insel: ein psychischer Druckkessel, in dem sich klaustrophobische Energien entladen.

Das ist es: das Endspiel der Zivilisation, in dem barbarische Instinkte zweier Menschen erwachen, die sich selbst immer unverständlicher werden. Zwei, die von Erlösung träumen, die es nicht geben kann. Das ist dann wie »Warten auf Godot« am Polarkreis – ein bitterernster Kampf um letzte Hoffnungen.

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