Im Niemandsland

Daniela Krien erzählt von Liebe in Wendezeiten

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 4 Min.

Eine Sprache wie ganz klare Frühlingsluft, durchscheinend, licht, noch kühl auf den ersten Seiten. Eine Sprache, die, wie wir bald erkennen, im Kontrast zum Erzählten steht. Sprache der Unschuld, während die Ich-Erzählerin sich schuldig fühlt. War sie es?

»Irgendwann werden wir uns alles erzählen« – Daniela Krien (1975 in Mecklenburg-Vorpommern geboren, in einem vogtländischen Dorf aufgewachsen, in Leipzig lebend) bezieht sich mit dem Titel ihres ersten Romans auf einen Ausspruch Alexej Karamasows: »Unbedingt werden wir auferstehen, unbedingt werden wir uns wiedersehen und heiter, freudig einander alles erzählen, was war.« Maria, die Ich-Erzählerin, liest ja den ganzen Roman über Dostojewski. Und sie hat eine Art Auferstehung hinter sich, bevor sie die ersten Worte zu uns spricht. Sie befindet sich, obwohl sie im Präsens erzählt, schon in einem anderen Leben. Ein Vorhang trennt sie von der Vergangenheit. Den kann sie gefahrlos beiseite ziehen und staunen, was ihr widerfuhr.

Ein Aufruhr der Gefühle, beglückend und quälend, wird noch einmal heraufbeschworen. Wir tauchen ein in einen Strudel der Ausweglosigkeit und werden durch die Sprache der Autorin zugleich in einen Zustand – nicht der Heiterkeit, wie es Alexej Karamasow versprach, aber doch der Gelöstheit gehüllt. Die unerhörte Begebenheit in Marias Leben: Als 16-Jährige war sie in Leidenschaft für einen Mann verstrickt, der älter als ihre Mutter war. Eine Obsession. Nun, wenn's weiter nichts ist, mag mancher Leser sagen, das soll ja hin und wieder vorgekommen sein. Von jungen Frauen, die viel ältere Bauern heirateten, weiß auch Maria. Aber sich zu dem vierzigjährigen Henner zu bekennen, würde bedeuten, ihren Freund Johannes zu brüskieren und seine Familie, bei der sie schon einige Zeit lebt, tödlich zu beleidigen. Erwartet ist, dass sie die zehnte Klasse wiederholt und mit Johannes nach Leipzig geht, wenn er dort Kunst studiert.

Alltag auf einem ostdeutschen Bauernhof von Juni bis Oktober 1990. Also auch ein »Wenderoman«? Insofern, als man sehen kann, wie fern politische Vorgänge rücken, wenn es ums Existenzielle geht. Wie bei Maria, die durch all die Heimlichkeiten und Lügen gleichsam gespalten wird. Darin ist die Autorin näher bei sich als in der Beschreibung der Umbruchzeit. Johannes kauft sich im Westen eine Kamera und entdeckt das Fotografieren. Johannes' Onkel kommt aus Bayern zu Besuch (natürlich im Mercedes), Johannes' Vater ergeht sich in Befürchtungen bezüglich der umliegenden Industrie und in Planungen eines Biobauernhofs. Es wird über Denunziationen bei der Stasi gesprochen und die Enteignung durch die LPG beklagt. Aber darüber schimpften sie wohl auch früher schon. Maria erinnert sich an die Pionierrepublik »Wilhelm Pieck« so, dass einen der Zorn ob solcher Dressur packt, wenn man ihr glaubt. Aber auf dem Brendel-Hof, der sie aufgenommen hat, ist alles vom Tagwerk beherrscht, vom Rhythmus des Althergebrachten. »Ich glaube, es war ihnen im Grunde egal, in welchem System sie lebten.« Man vergisst es mitunter: Vielen ging und geht es so.

Dem Dorf habe weder der Krieg noch die DDR etwas anhaben können, meint die Großmutter. Aber Maria – Mutter arbeitslos, Vater heiratet eine 19-jährige Russin – hat dort keine Wurzeln. Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Taumeln im Niemandsland: nicht DDR, nicht BRD, kein Kind mehr, nicht erwachsen. Umso mehr klammert sie sich an diese haltlose Liebe, an die »Sicherheit des klaren Verlangens«, die den älteren Mann zu etwas Besonderem macht. Wie eine höhere Gewalt kommt er über die junge Frau, die nun das Triebhafte in sich erkennt. »Nachts lag er da und war gierig nach ihr und er bekam sie«, wird Knut Hamsun zitiert. Auch Trakl: »Wir sind die Wandrer ohne Ziele,/ Die Wolken, die der Wind verweht,/ Die Blumen zitternd in Todeskühle,/ Die warten, bis man sie niedermäht.«

Die Umbruchzeit sei nur ein Symbol, sagte Daniela Krien jüngst in einem Interview. Zudem sei sie nicht sicher, »ob es in unserer spätkapitalistischen Gesellschaftsordnung, die stark von Masse und Konsum geprägt ist, solche puren, unverstellten Menschen noch geben kann«. Sie habe der jüngeren Literatur »etwas Pures, Ernstgemeintes« entgegensetzen wollen – »ganz ohne gängige ironische Brüche«. Sie habe den Willen »zum Pathetischen« gehabt.

Man liest mit Spannung, weil man sich fragt, wie das alles enden soll. Ein anderer Schluss als der von Daniela Krien gewählte, fällt mir nicht ein. »Es gibt Dinge, die können gleich erzählt werden, andere haben ihre eigene Zeit und manche sind unsagbar«, heißt es etwa in der Mitte des Romans. Dem Unsagbaren hat die Autorin mit ihrer Fiktion zumindest etwas von seiner Last genommen.

Daniela Krien: Irgendwann werden wir uns alles erzählen. Roman. Graf Verlag. 235 S., geb., 18 €.

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