Ich bin ein bodenloser Optimist

Im Gespräch mit Christoph Hein über seinen neuen Roman »Weiskerns Nachlass«

  • Lesedauer: 4 Min.

ND: Herr Hein, Ihr Roman »Weiskerns Nachlass« spielt im akademischen Milieu. Mit der Hauptgestalt Rüdiger Stolzenburg schufen Sie ein Porträt des akademischen Prekariats, das nach und nach seine Ideale verliert, dem jede Zukunftshoffnung abhanden kommt. Ein Zeichen unserer Gegenwart?
Hein: Aus meiner Studienzeit habe ich viele Freunde, die heute in ähnlich schwierigen Arbeitsverhältnissen stecken. Dass mit dem unsäglichen Wort Prekariat ein Begriff dafür gefunden wurde, liegt daran, dass sich das Problem in den letzten Jahren beträchtlich verschärft hat. Immer mehr Stellen fallen weg. Ein Fach als »Orchideenkunde« einfach zu streichen, weil es nicht genügend Bewerber gibt und kein Geld bringt, ist ein Phänomen, das ich vor dreißig Jahren nur in den USA kennengelernt habe. Mittlerweile hat die Praxis, dass jedes Fach sich selbst tragen muss, auch in Europa Einzug gehalten. Sponsoren haben ein Eigeninteresse und fördern das, was ihnen Nutzen bringt. Für die übrigen Fächer müsste aufgrund seines Bildungsauftrags eigentlich der Staat einspringen. Aber das macht er nicht mehr. Wir erleben auch das Abwickeln von Unverzichtbarem.

Inwieweit besteht in unserer Gesellschaft überhaupt noch die Möglichkeit geistigen Schaffens jenseits von ökonomischen Nutzenerwägungen?
Ihre Frage stammt aus einer Zeit des Bildungsbürgertums. Und das haben wir abgeschafft. Dass eine Universität die Kosten einspielen muss, wurde inzwischen ins allgemeine Denken übernommen. Ebenso, dass man Studenten nicht verprellen darf, sondern mit freundlichen Zensuren an das Institut binden muss, um dessen Gewicht bedeutsam zu machen.

Gerade die Studenten kommen in Ihrem Roman nicht gut weg…
Das Verhalten der Studenten ist nur eine Folge des Massenbetriebs. Es gab eine große Diskussion um gefälschte Dissertationen. Ich kenne Dozenten, die davon ausgehen, dass bereits achtzig Prozent der Hausarbeiten zusammenkopiert sind. Ein Dozent hat zwanzig Minuten Zeit, eine Hausarbeit zu werten. Da kann er nicht stundenlang am Computer recherchieren, welche Stellen gefälscht sind. Wenn ich das als Student weiß, dann sitze ich doch nicht Wochen an einer Hausarbeit.

Auffallend ist, dass viele Personen in Ihrem Roman, ungeachtet der misslichen beruflichen Situation, in der sie stecken, keinen kritischen Diskurs führen. Keine Spur von »Empört euch!«, Ist der Widerstandswille erlahmt?
Es ist kein Zufall, dass ein solches Buch wie das von Stéphane Hessel, auf das Sie anspielen, in Frankreich ein Erfolg ist. Bei uns gilt diese Haltung als überholt. Das heutige Ideal sind schöne, junge Menschen, die sehr viel Geld verdienen. Ich habe auch als Dozent gearbeitet. Die Studenten wissen genau, was nach dem schönen Studium auf sie zukommt, und ich habe sie bewundert, wie sie damit zurechtkamen. Ich wäre verzweifelter oder aggressiver. Heute nimmt man es hin. Es herrscht eine fatalistische Haltung.

Im kriminalistischen Zentrum Ihres Romans steht Friedrich Wilhelm Weiskern, Schauspieler, Schriftsteller und Librettist Mozarts, der im 18. Jahrhundert in Wien lebte und in dessen Erforschung Stolzenburg seinen ganzen wissenschaftlichen Ehrgeiz legt. Ihr Stolzenburg bekennt sich als Idealist, wenn er sagt: »Ich würde gern mehr Geld verdienen, aber ich würde nie arbeiten, nur um Geld zu verdienen.« Tatsächlich kann er diese Maßstäbe nicht erfüllen. Eine kulturelle Verfallserscheinung unserer Gesellschaft?
Nein. Nehmen Sie nur die künstlerischen Berufe. Seit wir schriftliche Zeugnisse über die menschliche Kultur haben, hatten Künstler einen Brotberuf. Aesop zum Beispiel war Haussklave. Er hatte das Glück, einen Herrn zu haben, der ihm Zeit gab für seine schriftstellerische Tätigkeit. Heinrich Heine war einer der ersten freischaffenden Schriftsteller. Heute leben die meisten Autoren von Beiträgen für den Rundfunk und Ähnlichem.

Nun geht es für Stolzenburg nicht nur um einen Brotberuf, sondern um Tätigkeiten wider seine inneren Überzeugungen…
Aufgrund seiner prekären Situation ist er nolens volens anfällig. Mehrere Verführungen lauern auf ihn, darunter eine finanzielle, von der wir bis zum Schluss nicht wissen, wie sie ausgeht. Ich habe große Bedenken. Ihm steht das Wasser bis zum Hals. Er ahnt etwas von einem Ende. Diesen Prozess des älter werdenden Mannes fand ich für mich spannend.

»Weiskerns Nachlass« ist ein eminent pessimistisches Buch. Nicht nur Stolzenburgs Lebensperspektive bleibt in prekärer Offenheit…
Ich bin Humanist und bodenloser Optimist. Die Katastrophe, die auf die Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen lauert, wenn sie in die Rente kommen, spare ich aus. Das Leben wird für Stolzenburg noch sehr viel härter werden. Aber da sehen Sie meinen optimistischen Blick auf die Welt, dass ich rechtzeitig den Vorhang schließe.

Gespräch: Adelbert Reif

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