Vor mir Ostsee, Ostsee, Ostsee! Breitwandformat, blickfüllend. Klare Sicht, ruhige Oberfläche, silbrig über den Sandbänken, flaschengrün über den Tiefen, und hinten, bei Warnemünde, ein Schiff...
Das ist Frieden, das ist Kitsch. Der Kitsch, den wir uns einmal im Jahr, kurz vor dem Koller, alle wünschen. Und den ich, auf der Terrasse sitzend, vor mir eine Tasse Kaffee und ein Stück Stachelbeerkuchen, genieße: Siehe, das Ferne liegt so nah, und was eben noch nah war, rückt fern - ein ungemein erbaulicher Ausblick.
Duscheks hätten ihr Hotel am liebsten »Am Meer 1« genannt. So die postalische Adresse, und Peter Duschek ist überzeugt: »Damit wäre alles gesagt gewesen.« Doch das Hotel, als sie es kauften, hieß schon seit Jahren »Nienhäger Strand«, so war es den Leuten bekannt, weshalb sie den Namen beibehielten.
Es ist wahrscheinlich das erste Mal, dass Peter Duschek vormittags auf seiner Terrasse sitzt und dabei die Zeit vergisst. Dieses Jahr war er noch nicht mal am Strand, seine Frau Gudrun ebenso wenig. Jetzt habe ich ihn darum gebeten, von seinem Hotel zu erzählen, das heißt, jetzt redet er über sein Leben, und es überwältigt ihn, weil er sich so selten mit ihm beschäftigt. »Als ich das Haus zum ersten Mal sah, wusste ich, hier musste rein. Ich meine, es war ne üble Rinde, aber die Lage war unübertrefflich!« Das war 1986. Damit ist klar, dass das Hotel nicht nur von der Lage her einmalig ist, sondern auch eines der wenigen, das sich heute in den Ostseebädern noch in der Hand von Ostlern befindet. Und dass Peter Duschek, so wie er spricht, kein gebürtiger Fischkopp ist.
Duschek stammt aus Neuruppin. Ich stelle mir vor, dass er als Junge ein ruppiger Randberliner war, der die Hauptstadt großmäulig als Neuruppins Vorort bezeichnete. Das tut er nämlich immer noch grinsend. Jungenhaftes Muskelspiel: Wer nimmt es mit mir auf, wer kann mir? Die kräftige Statur sagt: niemand. Dabei ist er 53. Seit er merkte, er wurde kurzatmig, trainiert er und bepackt sich mit Muckis.
Die Nachkriegszeit war schwierig für Kinder. Duschek war ein schwieriges Kind. Die Verhaltensnoten: fünf. Er erzählt das wie ein Gewinner. Dabei brachte es ihn um die Kochlehre. Statt dessen lernte er Baumaschinist. Den Facharbeiter machte er nicht, denn er weigerte sich strikt, die Abschlusshausarbeit zu schreiben - er sah nicht ein, dass die Hausarbeit neben Theorie und Praxis ein Drittel der Leistung ausmachen sollte, nach der man ihn bewertete. - Einer, der immer widerspricht. Einer, der ums Verrecken nicht nachgibt, weil er seinen Stolz behauptet. Wäre er anders, denke ich laut, hätte er den Kampf um das Haus, von dem aus man auf die Ostsee blickt, sicher nicht gewinnen können. Duschek nickt: »Darauf können Sie Gift nehmen.«
Fischerboote tuckern aufs Meer. Nein, man hört sie nicht, sie gleiten. Möwen segeln durch die Stille. Die Sonne scheint, er nennt sie Klärchen. Eine Frau, er nennt sie Conni, bringt Gläser und eine Flasche Wasser, erfreulicherweise im Kühlbehälter. Klärchen und Conni sorgen dafür, dass ich mich hier wohlfühle. Klärchen steht natürlich nicht auf Duscheks Gehaltsliste. Conni schon - Gudrun und Peter beschäftigen insgesamt vierzehn Leute, davon sieben Lehrlinge. Und zwar nicht nur während der Saison, sondern das ganze Jahr über. »Vielleicht sind wir ein bisschen dumm, doch wir sind nun mal Ossis und bleiben es«, sagt er. »Außerdem hat es Vorteile. Erstens sind gute Fachkräfte knapp, unsere sind erstklassig. Zweitens bleiben die besten bei uns - wir sind stolz auf unsere Leute, ohne die wir gar nichts wären; sie sind für uns Familie.«
Conni hat sich diskret zurückgezogen. Seinen Facharbeiter, sagt Duschek, habe er später nachgeholt. Dann habe er sich an die Trasse gemeldet: »Mann, ich kriege Gänsehaut, wenn ich auch nur daran denke!« Gänsehaut nicht wegen der Kälte - vier Winter hat er in Bar verbracht, sondern Gänsehaut vor Glück. »Zum ersten Mal habe ich gesehen, dass es wirklich so was gibt: Wir arbeiteten, um die Arbeit zu schaffen! Das erste Mal habe ich gedacht, es könnte funktionieren, unser Denken. In Bar hat es funktioniert: Nicht, dass ich gar nicht geschlafen hätte, aber als wir das Fundament der Molchstation geschüttet haben, haben wir 53 Stunden am Stück durchgearbeitet.«
In Bar lernte er Gudrun kennen. Gudrun aus Bad Doberan, die wie viele Frauen der Trasse zur Reinigungsbrigade kam. Später fuhr sie Kipper und Jeep, »drei mal täglich musste sie Reifen wechseln - ein richtiges Kampfschwein, sage ich Ihnen.« Wohl die seltsamste Liebeserklärung, die ich je gehört habe, und selten klang eine zärtlicher. Übrigens, das »Banner der Arbeit«, mit dem man ihn auszeichnete, habe er nicht abgeholt. »Verstehen Sie, es war schon in Ordnung, dass die mich da rausgesucht hatten, ich kann mich ja schließlich gut leiden. Doch wer das Banner alles bekam, die verteilten es mit der Streubüchse...« Es sei ihm schließlich zugeschickt worden. Das Geld, das dranhing, habe er einem Kindergarten gespendet: »Die Frau, die machte ganz viel für die Kinder. Ne richtig gute Kommunistin, so was hats ja auch gegeben.«
Längst sind wir hier draußen nicht mehr allein. Fast alle Terrassenstühle besetzt, die Sonnenschirme aufgespannt, Conni muss hin- und herflitzen. Sie trägt Salatteller, Fischplatten, Eisbecher, Kuchen, Biergläser. Nach dem Essen drehen die meisten ihre Stühle Richtung Meer. Die Lider gesenkt, die Augen Schlitze, durch die das Funkeln und Glitzern einsickert. Pure Lust, eine Zigarette.
Peter Duschek ist Nichtraucher. Alkohol rührt er kaum an, das wäre tödlich für einen Kneiper. Als er sich der Gastronomie zuwandte, hatte er bereits gelernt, »wann man arbeitet und wann man trinkt«. Er hatte noch einmal die Schulbank gedrückt: seinen Gaststättenfacharbeiter und den Gaststättenleiter gemacht, den Nachweis als Küchenleiter erbracht. Die erste Kneipe von Gudrun und Peter Duschek: eine Konsumgaststätte in Hakenberg in der Neuruppiner Gegend. Das Hakenberg Anfang der 80er Jahre beschreibt Duschek als »traurige Kuhbläke.« Um den Menschen, der Jugend etwas zu bieten, holten sie Kultur ins Dorf; worauf der Konsum die Gaststätte als »Clubgaststätte« melden wollte. »Es war keine Clubgaststätte«, sagt Duschek, »es war Etikettenschwindel! Clubgaststätten mussten nämlich ein kulturelles Zentrum sein, uns fehlten die Voraussetzungen.« Erbost hängte er das Schild wieder ab, sagte: »Das kommt erst wieder ran, wenn wir so ein Zentrum sind!«
Himmel, was für ein Charakter! Manche haben gar keinen. Duschek hat wieder den Kohlhaas gegeben. Er schrieb etliche Eingaben, bis zur Parteikontrollkommission - Duscheks wurden vom Konsum gekündigt. Er klagte und holte sich sein Recht. »Ich war ja für die DDR, ich wollte, dass wir uns entwickeln - man konnte uns nichts anhängen.« Recht gebeugt wurde in seinem Fall nicht. Nur Arbeit bekamen Duscheks nicht mehr.
Wir denken beide an den Staat, der seine besten Kinder oft am schäbigsten behandelte. Duscheks waren arbeitslos. Sie gingen Kartoffeln einsacken oder in die Erdbeeren. »Wir haben richtig Geld verdient, aber es war ne Knochenarbeit. Eine Schicht dauerte sechs Stunden, wir fuhren meist Doppelschichten. Mit so nem Kampfschwein wie Gudrun eins ist kann man gar nicht untergehen.«
Gudrun Duschek, die ich bisher nur kurz zu Gesicht bekam, kann sich auch jetzt nicht zu uns setzen. Sie geht Conni zur Hand; zwischendurch hat sie neue Gäste zu begrüßen. Immerhin schaut sie bei uns vorbei, um nicht unhöflich zu erscheinen. Denn unhöflich ist sie ganz und gar nicht, die Dame des Hauses, der man die Hektik des Tagesbetriebes nicht ansieht, die im Gegenteil Ruhe verbreitet: der Händedruck kühl, kräftig und herzlich, das kurze Haar wie frisch vom Friseur, auf der Stirn kein Schweißtröpfchen. Flüchtig fasst Duschek sie um die Taille, so hält er sie wohl auch beim Tanzen. Wenn sie an Tournieren teilnehmen, »für uns zählt der sportliche Gedanke, wir müssen nicht unbedingt gewinnen«. Oft fahren sie auch zusammen Rad. Unterwegs tanken sie einen Kraftstoff, der den Wäldern nicht schadet: Spaß. »Wir lieben unsere Heimat«, sagt Gudrun Duschek, »und diese Liebe leben wir.« Deshalb erhielten sie den Titel »Umweltfreundlicher Betrieb« - wegen der sparsamen Heizungsanlage, dem Verzicht auf Hochglanzprospekte, den Milchkännchen statt der Plastiknäpfe, wegen der regionalen Produkte, die sie in der Küche verwenden...
Als es Gudrun Duschek zur Trasse zog, studierte sie Ökonomie. Sie hatte gerade herausgefunden, dass das nicht halb so aufregend war, wie sie sich erträumt hatte. Ihr Leben mit Peter Duschek: ein Abenteuer, nie langweilig. Bei der Autobahnversorung endlich wieder durchstarten können. Drei Sommer auf Pöhl in Timmendorf - in der Zeltplatz-SB-Gaststätte täglich 2000 Mittagessen. Im Winter Weihnachtsmarkt in Rostock, ein eigenes Haus in Bad Doberan und die HO-Kneipe »Unkel Bräsig« - endlich zu Hause, endlich sesshaft. Dann fand Duschek das Haus am Meer, 1986 noch Ferienparadies der Bauern des Schwaneberger VEG; die Gaststätte im Parterre war an die HO vermietet. Am 10. März 1987 kam Duschek als neuer Objektleiter, Gudrun wurde Chefin der Eisbar. 1989 waren Gespräche mit Schwaneberg, die Gastronomie des Hauses am Meer familiär in Kommission zu nehmen, aus Duscheks Sicht erfreulich gediehen, als das Ende der DDR hereinbrach.
Vom Strand dringen kaum Geräusche herauf. Ich gehe ein paar Schritte zur Brüstung, um nach unten sehen zu können. Frauen und Männer, dünne und dicke, mit oder ohne Badebekleidung, in Strandkörben oder auf Handtüchern. Wenig Jugendliche, kaum Kinder: Nienhagen, zwischen Warnemünde und Heiligendamm gelegen, ist ein stilles Seebad geblieben. Für Menschen, die Ruhe suchen, die statt einer Glamour-Welt lieber sich selbst begegnen möchten. Schon am frühen Abend werden die Bürgersteige hochgeklappt, kaum Lokale, keine Geschäfte.
»Ich sah sie alle eingehen«, sagt Duschek, der es als Pflicht ansah, bei einheimischen Händlern zu kaufen und nicht um die Preise zu feilschen, »ich wusste, wie sie zu strampeln hatten«. Friede kommt oft nach Befriedung, was nichts an seinem Marktwert ändert.
Kräftig strampeln mussten auch Duscheks. Die Treuhand gab ihnen den Zuschlag. Acht Wochen später zog sie ihn zurück, schrieb das Haus am Meer zum Verkauf aus. »Für 1,3 Millionen!«, sagt Duschek. »Da denkste: Das wars, das betrifft uns nicht. Dann denkste: Wieso eigentlich? Wie geht die Sache mit den Banken? Wie geht das mit der Mehrwertsteuer? Wie geht das mit den Brauereien? Das müsste doch zu lernen sein.«
Die HO hatte sich damals in die Holig-GmbH umgewandelt, »die Zeit der großen Strolche brach an«. Einer nach dem anderen klopfte, um sich das Haus untern Nagel zu reißen. Unter anderem Michael Quandt, von Beruf Multimillionär. »Kein Könner wie der Rest der Familie, eher so ne Flachzange.« Er kam mit demselben Konzept, das sich Duschek ausgedacht und der Holig vorgeschlagen hatte. Von dort, vermutet er, hatte es Quandt: Fünf Holig-Objekte, die Elite, in einer Hand zusammenzufassen, in diesem Fall natürlich in Quandts. Der versprach, im Gegenzug alle Holig-Objekte zu kaufen; die Chefs glaubten ihm, nicht so Duschek. »Wer, wenn nicht wir«, insistierte er, »hätte denn im Osten ne Chance? Wir haben Erfahrung und ne Immobilie.«
Er nahm einen Unternehmensberater, der ihn bei der Treuhand vertrat und den Kaufpreis um sage und schreibe 400000 runterhandelte, was ihn in der Gewissheit bestärkte, dass man ihn ohne seinen Berater übers Ohr gehauen hätte. Quandt erschien in der Gaststätte, »ne dicke Zigarre im Mundwinkel und ne bildhübsche Frau im Arm. Quandt fragte: Was fahren Sie für einen Wagen? Trabant 601 de luxe? Sie verdienen einen Benz, und Ihr Gehalt als Geschäftsführer, das können Sie selbst festsetzen.« Später kam noch jemand von der Treuhand, der sein eigenes Süppchen kochen und ihn überreden wollte, beim Kauf als Strohmann zu fungieren. Duschek ließ ihn reden, sagte: »Also, für mich war das ein Witz. Es gibt so viele schwarze Schafe, klar, dass sie mich testen müssen.« Wieso hat er abgelehnt? »Das Ganze war mir viel zu golden, es konnte gar nicht hinhauen. Und letztlich hat der Quandt ja dann den "Teepott" auch in den Sand gesetzt.«
Das Haus, ich denke, es würde sicher keinen Architekturpreis gewinnen. Ein nüchterner Zweckbau, in dem sich einst Bauern ein Gemeinschaftsbad teilten. Aber griechisch-weiß angestrichen, an den Fenstern blau abgesetzt, und oben auf der Treppe Conni. Wobei ihr Klärchen - nichts gegen Conni - eindeutig den Rang abläuft. Klärchen, die jetzt überm Meer schwebt, glutrot und bereits so dicht, dass sie in den nächsten Minuten reinfällt...
Duschek spricht von kleinen Brötchen, die sie erst mal gebacken haben: kein Schnickschnack, nur nötige Umbauten, um etwa 50 Hausgäste ordentlich unterbringen und komfortabel bewirten zu können: eine gemütliche Gaststätte, das Panoramazimmer fürs Frühstück, ein Konferenzraum, eine Sauna - »was man reinsteckt, muss sich auch rentieren, sonst kann man gleich Insolvenz anmelden«.
Es ist einundzwanzig Uhr dreißig. Wir alle sind an die Brüstung getreten: Auf die Sekunde taucht Klärchen ins Meer. Nach ein paar Atemzügen versinkt sie. Wen interessieren in diesem Moment Brötchen, auch wenn sie noch so klein sind? Staunen, Ehrfurcht, ein letztes Glas Rotwein. »Das ist das Schöne hier«, meint Duschek, »jetzt gehen die meisten bald ins Bett. Das heißt Feierabend für uns, für unsere Leute, für Gudrun und mich.«
Irgendwann werden auch Helden älter. Auch wenn sie es nicht wahrhaben möchten.
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