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  • Buchmesse Frankfurt am Main

Die alte Lust zu handeln

VOLKER BRAUN erzählt von einem Aufstand, der unterblieb

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 4 Min.

Was so nicht stattgefunden hat, mit diesem Buch gehört es zur Wirklichkeit. Aus dem Hungerstreik der Kalikumpel von Bischofferode ist kein Volksaufstand geworden. Der »Thomas-Müntzer-Schacht« geschlossen . Viele Arbeiter im Osten haben ihre Werke gar noch selber demontiert. Aber die Geschichte, sagt Volker Braun, »hat mehr in sich, als sich ereignet: auch das Nichtgeschehene, Unterbliebene, Verlorene liegt in dem schwarzen Berg. All das Ersehnte, nicht Gewagte und die alte Lust zu handeln.«

Diese Lust: Glimmt sie noch unter allgemeiner Entmutigung? Dem winzigen Funken Luft zu geben, Volker Braun ist es gelungen. Zunächst einmal für sich selbst. Käme der Atem derer hinzu, die das Buch lesen ...

Ach, Utopie! »Sie hat nichts Besseres zu tun als nichts / Beschäftigt mit Überleben, von der Hand in den Mund / Ein Gespenst aus der Zukunft arbeitslos ...« So heißt es in Brauns bekanntem Gedicht. Und wenn man Geister der Vergangenheit hinzuriefe? Da ist schon der Titel der Erzählung eine Beschwörung: »Die hellen Haufen« kommen aus dem Bauernkrieg zu uns herüber, vereinigen sich gleichsam mit den Arbeitern, die erst nur für ihren Schacht kämpfen, doch bald schon an der ehemaligen Grenze Zäune aufstellen: »KEIN KOLONIALGEBIET«. Aber auch die Gegenkräfte von einst und jetzt vereinigen sich. Was in »Bitterode« begann, endet auf der Abraumhalde von Volkstedt. Die Losung »KEINE GEWALT« ist den Leuten nicht zugute gekommen. Gegen die weißen Fahnen – nur eine einzige rote wurde entrollt – trat das Militär »in schwarzen Haufen« an.

»Das Wirkliche beschreibend, kann man kurz und ungerecht sein«, meint Volker Braun, »jeder weiß sein Wissen hinzuzusetzen. Das Nichtgeschehene auszumalen, braucht es Geduld und Genauigkeit.«

So ist, wieder einmal, unter seinen Händen ein hochliterarischer Text entstanden, organisch gewachsen aus seinem Gesamtwerk, mit diesem durch Nervenbahnen und Blutgefäße verbunden. Das »Großeganze« – der Leser schaut sich staunend darin um. Waren wir nicht eben noch mit diesem Autor im »unbesetzten Gebiet« Schwarzenberg, im schwarzen Berg, und schließen uns nun den »hellen Haufen« an, weil wir das Dilemma der »vier Werkzeugmacher« ebenso begriffen haben wie das »Schichtbuch des Flick von Lauchhammer«. Erinnern uns an Volker Brauns Rede zum Büchner-Preis vor elf Jahren, als er damals schon zwei Menschenzüge zusammenführte – jenen vom 4. November 1989, der noch vom Wunsch »Volkseigentum plus Demokratie« beseelt war, und den Hungerzug der Bischofferöder Kalikumpel. So lange reifte also diese Erzählung schon.

Und wir, die wir darin immer wieder verschlüsselte Namen und Orte entdecken, verblüfft, wie pergamenten zart die Haut zwischen Realität und Fiktion doch ist, ahnen: Da ist noch viel mehr. Immer ist der kundige Leser versucht, sich mit Volker Braun auf einen Wettkampf der Interpretationen einzulassen. Wie soll man mit diesem Autor auf Augenhöhe kommen? So durchgearbeitet, wie Brauns Texte sind, beginnt selbst das rohe Gestein in ihnen zu funkeln.

Komprimierte Sprache, die an ihrer Oberfläche schlicht erscheinen kann. Menschen der Arbeit mit ihren Bedürfnissen stehen im Mittelpunkt. Werden sie es lesen? »Was muß noch geschehen«, ruft Hilde Brand bei Volker Braun, »damit ihr auf die Straße geht?«

Natürlich hat man Brauns Gedicht »Das Eigentum« die ganze Zeit im Kopf, auch jenen Satz aus seinem Aufsatz »Rimbaud. Ein Psalm der Aktualität« von 1985: »Es geht darum, durch ein Entgrenzen aller Sinne am Ende im Unbekannten anzukommen.« Der Text ein Spiegel, um Haltung zu proben. Hebung des Kinns oder hängende Schultern? Auch beides geht. Kleinmut im Blick, der doch leuchten soll? Oder wäre das Nüchternheit?

Wenn in der DDR der Bauernkrieg als revolutionäre Bewegung gefeiert wurde, schienen die immensen Opfer wie Späne beim Hobeln. Dass sich eine Staatsordnung gewaltlos beseitigen lässt wie 1989, wird kaum wiederholbar sein. Dass alle frei von Not sein sollen, wir können es wünschen, aber diese Realität wird uns nicht geschenkt. Ein »heller Haufen« mag einen ermutigenden Anblick bieten, aber kleine Protest-Pünktchen verkraftet die Weltordnung des Kapitals. Wirksame Aufstände werden anders verlaufen und so erschreckend aussehen, dass ihre gewaltsame Zerschlagung den Leuten vom »hellen Haufen« sogar noch plausibel erscheinen mag.

Literarischer Anstoß zu Mutmaßungen, die dann weit weg führen von der Literatur.

Volker Braun: Die hellen Haufen. Erzählung. Suhrkamp Verlag. 96 S., geb., 14,90 €

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