Das gefährdete digitale Gedächtnis

An der Universität der Bundeswehr München werden alte Großrechenanlagen erforscht

  • Rudolf Stumberger
  • Lesedauer: 5 Min.

Es ist ein merkwürdiger Raum. Von der Decke herab senken sich silber funkelnde Abluftröhren, darunter stehen leise surrend schwarze Kästen, die ein wenig an Umkleidekabinen erinnern. Werner Baur schreitet entlang der elektronischen Geräte, in deren Inneren ab und zu grüne oder rote Lämpchen aufleuchten. »Das hier ist unser Heiligtum«, sagt der 51-Jährige. Der Raum beherbergt den neuen Großrechner des Leibnitz- Rechenzentrums auf dem Gelände der Münchner Universität in Garching, der von rund 100 000 Nutzern in den Universitäten der bayerischen Landeshauptstadt angesteuert wird. Auch die bayerische Staatsbibliothek nutzt diese Rechnerkapazität und ist permanent dabei, ihre Buchbestände zu digitalisieren. Baur ist Leiter des Speichermanagements und sorgt so dafür, dass auch die künftigen Generationen noch etwas mit den heute gesammelten und gespeicherten Daten anfangen können. Wo liegt das Problem? »Vor 25 Jahren«, erzählt Baur, »habe ich meine Diplomarbeit auf einem ?Word-Star?-Programm geschrieben und auf einer 17-Zoll-Diskette abgespeichert.« Und die kann heute niemand mehr lesen, weil es weder die dazu nötige Hard- noch Software gibt. Im Durchschnitt alle sechs Jahre wird eine neue Hardware angeschafft. Was dazu führt, dass die Speichermedien von vorgestern längst vergessen und schon die von gestern nicht mehr abspielbar sind.

Ortswechsel. Die Halle 109 auf dem ehemaligen Fliegerhorst Neubiberg bei München. Uwe Borghoff lehrt an der hier ansässigen Hochschule der Bundeswehr Informatik. Der Professor ist auch dafür verantwortlich, was seit gut einem Jahr in Halle 109 passiert. »Ja«, sagt der 51-Jährige, »das riecht ein bisschen nach Harz, das sind die Steckverbindungen.« Der Informatiker lehnt an einem mächtigen Eingabepult. »IBM Electronic Data Processing Machine« steht in gegossenen Lettern über dem metallenen Tisch mit seinen vielen glänzenden Knöpfen. Davor breiten sich im rechten Winkel links und rechts große, mannshohe Metallschränke mit unzähligen braunen Kabelsträngen aus. Wirft man einen Blick auf die Rückseite, so sind Hunderte von elektronischen Röhren zu sehen. »Das ist ein IBM 705«, erklärt Informatikprofessor Borghoff, »der war bei der Hoechst AG in Frankfurt in Betrieb.« Was aber schon lange her ist, 54 Jahre um genau zu sein. Damals, also 1957, war das die modernste verfügbare Technik. Gefüttert wurde das »Elektronengehirn«, wie man in dieser Zeit gerne sagte, über das Einlesen von Lochstreifen. Die Rechnerkapazität des Röhrenmonsters betrug 40 Kilobyte. Jedes Billig-Handy bringt heute hundert mal mehr Rechnerleistung mit.

Und das ist auch der Grund, warum der »IBM 705« heute in Halle 109 steht. Neben der Festplatte aus den 1960er Jahren, die ungefähr so groß ist wie der Reifen eines Lastwagens. Neben anderen alten Rechnern, vom einstigen Supercomputer namens Cray über die Robotron-Technik aus der DDR bis hin zu den Commodore-Konsolen. In Halle 109 entsteht derzeit ein europaweit einzigartiges Forschungs- und Ausstellungszentrum für Rechnertechnik von den 1950er Jahren bis heute - die »datArena«. Ein Ort, an dem digitales Erbe bewahrt wird. »Nein, das hört so schnell nicht auf«, sagt Uwe Borghoff. Er meint damit jenen Prozess, der mit dem IBM 705 begann und seitdem immer weitergeht: die permanente Umwälzung der Informationstechnologie mit der steten Erweiterung von digitaler Rechner- und Speicherkapazität.

Stellte man vor 500 Jahren ein Buch in das Regal einer Bibliothek, so lässt sich das heute wieder herausnehmen und lesen. Für das gleiche Buch in digitalisierter Form ist das nicht vorstellbar. Es sei denn, die Daten werden auf neue Datenträger umgeschichtet und so parallel zur Erneuerung der Hardware lesbar erhalten. Genau das macht Speichermanager Baur am Leibnitz-Rechenzentrum. In einem nüchternen Raum ohne Fenster öffnet er einen der unspektakulären Metallkästen und zeigt auf die darin verborgene Mechanik. »Das ist quasi ein Umkopier-Roboter«, erklärt er. Alle vier bis fünf Jahre müssen sämtliche Daten auf neue Datenträger kopiert werden, weil sich die Speicherkapazitäten wieder erweitert haben, weil es neue Bänder und Lesegeräte gibt.

Zurück in Neubiberg: Dort ist in einer Ecke von Halle 109 Peter Bartsch am werkeln, er macht sich an der Stromversorgung eines »Control Data 960«-Rechners aus dem Jahre 1989 zu schaffen. Bartsch hat lange Jahre bei der Firma gearbeitet, jetzt versucht er die alten Rechner mit ihren großen Magnetspulen wieder zum Laufen zu bringen. Der Aschaffenburger ist Unterstützer des Vereins »Gesellschaft für historische Rechenanlagen«, der als Träger für das »Computer Museum München« fungiert. Die Gesellschaft besitzt Sammlungen mit Tausenden von Objekten, die vom Informationszeitalter erzählen: Hardware von der Rarität bis zum Mainstream, Werbemittel, Zeitschriften, Literatur, Software und eine der größten privaten Datenträgersammlungen Europas. Zu den gut zwei Dutzend Mitgliedern gehört auch Wolfgang Kainz-Huber. Der 53-Jährige sammelt Mikrocomputer, mehr als 500 zumeist funktionstüchtige Rechnermodelle sind es inzwischen. Er hält eines der größten privaten Software-Archive Europas und auch Spielkonsolen trägt er zusammen. »Die interessieren mich persönlich nicht die Bohne, aber ich habe sie alle.« Gewissermaßen das Gegenstück im Verein stellt John Zabolitzky mit seiner Sammlung funktionsfähiger historischer Großrechner dar, die in Kellern, Garagen und einer angemieteten Halle auf einem Bauernhof lagerten. Die Rechner stammen vom Max-Plank-Institut für Plasmaphysik, vom Deutschen Wetterdienst oder von der Hoechst AG. Jetzt stehen sie als Leihgabe in der Halle auf dem ehemaligen Fliegerhorst Neubiberg.

Zukünftig soll die »datArena« auch für die Öffentlichkeit zugänglich sein. Und vielleicht wird irgendwann in Halle 109 auch »Watson« stehen, der nagelneue und »superintelligente« Quiz-Rechner von IBM. Ausgestattet mit einem 16 Terabyte Arbeitsspeicher soll er 80 Billionen Berechnungen pro Sekunde durchführen und es so mit menschlichen Experten aufnehmen können. Auch er wird eines Tages von anderen Rechnern überholt werden und dann zu Alteisen werden. Denn, wie Professor Borghoff voraussagt, der Prozess der Umwälzung der Informationstechnologie geht immer weiter.

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