Von der Kraft der Kunst

Lutherstadt Wittenberg zeigt »Zwischen Bedrängnis und Widerstand«

  • Harald Kretzschmar
  • Lesedauer: 5 Min.
Jean Delpech: Die besetzte Stadt (Paris 1943), Kupferstich, 1944
Jean Delpech: Die besetzte Stadt (Paris 1943), Kupferstich, 1944

Die sogenannte Provinz ist immer für Überraschungen gut. Wenn abseits von den großen Kunstzentren wichtige Entdeckungen zu machen sind, so sollten diese medial wahrgenommen werden. Die Lutherstadt Wittenberg wird bildungsmäßig schnell auf Luther und Melanchthon sowie den älteren und den jüngeren Lucas Cranach reduziert. Zur Zeit besteht Anlass, darüber hinaus eine Ausstellung - und in diesem Fall gleichfalls den dazugehörigen Katalog - zu beachten und zu betrachten. Und zwar genau am historischen Punkt, welcher das markiert, was wir »Reformation« nennen: Altes Rathaus und Cranach-Haus am historischen Marktplatz. Hier wird jetzt ein wichtiger, aber wenig beachteter Abschnitt der Kunstgeschichte in Werken bildender Künstler aus der ganzen Welt gezeigt: die Zeit von 1933 bis 1945.

»Zwischen Bedrängnis und Widerstand« - so der Ausstellungstitel - haben sich Künstler und Künstlerinnen bewegt, als sie sich zeichnerisch, druckgrafisch und malerisch mit dem über Deutschland und von da aus zeitweise über halb Europa herrschenden faschistischen System auseinandersetzten. Vom Malverbot wegen Diffamierung als »Entarteter Künstler« über die satirische Anprangerung von Exponenten der Gewaltherrschaft bis zur Dokumentation eines Lebens unter der Okkupation oder hinter Gittern oder Stacheldraht - alles wird thematisiert. Die künstlerische Kraft der Gestaltung des Leidens und Aufbegehrens ist imponierend. Unter den widrigsten Umständen von Haft und Zwangsarbeit oder mitten im Kampfgeschehen war immer noch ein Zeichenstift zur Hand, Gesichter und Geschehnisse festzuhalten und oft bis zur Steigerung ins Symbolhafte und Allegorische zu überhöhen. Wie am Ende der Mensch und das Menschliche triumphierte, beweist gerade diese Kunst.

Was in dieser komprimierten Konzeption so in kaum einem Museum vereinigt ist, das hat der Wittenberger Chemieingenieur Dr. Gerd Gruber in langjähriger Sammeltätigkeit zusammengebracht. Auf Anregung von Lea Grundig und mit ihrer Unterstützung bereits in ganz jungen Jahren begonnen, ist daraus eine systematische Forschungsarbeit geworden. Ob nun beim persönlichen Gespräch oder durch Briefkontakt mit Überlebenden und Anverwandten - er erfuhr von verborgenen, ja, oft von vergessenen Kunstwerken und den widrigen Umständen ihrer Entstehung. Er erwies sich als willkommener Ansprechpartner, dem man selbst ganz persönliche Aufzeichnungen anvertraute. Vieles konnte er so gewissenhaft verwahren und als Kulturgut bewahren. Ja, und einst soll die Sammlung des Kunstmuseums Moritzburg in Halle mit der Stiftung dieses unvergleichlichen Bestandes vervollständigt werden.

Der von Gruber nun erarbeitete 400-seitige Katalog enthält 1100 Abbildungen, davon 32 Farbseiten. Damit ist fast der gesamte Bestand dieses Teils seiner Sammlung abgebildet. Auf einem Anhang von 100 Seiten finden wir 382 Biografien aus 27 Ländern, ergänzt durch Deportationslisten, KZ-Registrierkarten und Fotodokumente. Das künstlerische Gewicht all dessen beweist sich allerdings am besten in den 150 Arbeiten, die nun an den zwei am Markt gegenüberliegenden Ausstellungsorten - Altes Rathaus und Cranach-Haus - zu sehen sind. Wesentliche Blickachsen ergeben sich da auf die verschiedenen Themenbereiche und individuellen Sichten. Realistisch gesehene und satirisch überhöhte Kompositionen wechseln so mit surreal gespenstischen oder abstrakt verfremdeten Lösungen.

Für Kenner von Kunstgeschichte und Kunstgeschehen des 20. Jahrhunderts ergeben sich bei manchem prominenten Namen viele Assoziationen: Aus Deutschland Käthe Kollwitz und Ernst Barlach, Hans und Lea Grundig, Gerhard Marcks und Otto Pankok, Leo Haas und Wilhelm Rudolph, oder international Pablo Picasso und Joan Miró, Marc Chagall und Jean Arp, Renato Guttuso und Giacomo Manzu. Wer aber kennt Hermann Fechenbach oder Otto Herrmann, Kurt Schumacher oder Heinrich Stegemann, Jean Delpech oder Gyula Zilzer, Suzanne Roger oder Rachel Szalit-Marcus? Gruber spürte die schon im Ungefähr des Ungewissen Versunkenen auf und macht sie hier mit ihrer künstlerischen Leistung namhaft. Wer wollte versäumen, sich nun endlich mit ihnen bekannt zu machen? Der Weg nach Wittenberg und der Erwerb des mit 20 Euro recht preiswerten Katalogs lohnt sich auf alle Fälle.

Im Zusammenhang mit dem als hervorragendes Kunstereignis zu betrachtenden Projekt ergeben sich einige Fragen, was die offizielle Rezeption betrifft. Zwei kompetente kunsthistorische Persönlichkeiten äußern sich im Katalog. Der Potsdamer Spezialist für die Klärung des Begriffs »Entartete Kunst«, Andreas Hüneke, führt leider mit seinem Text zu nationalen und internationalen Aspekten in der Kunst der 20er Jahre vom Thema der Ausstellung unzulässig weit weg. Diese Scheu, sich der Brisanz des Antifaschismus zu stellen, kennt glücklicherweise die Chefin der Berliner Akademie-Kunstsammlung, Rosa von der Schulenburg, nicht. Sie stellt mit den Namen Fechenbach, Herrmann und Rudolph drei Künstlerschicksale in bewegenden Worten vor. Doch der Forschungsansatz, der 1968 mit dem wegweisenden Standardwerk »Kunst des Widerstands« von Erhard Frommhold erreicht war, ist nahezu verdrängt. Die sich darüber mokieren, wie Frommhold und der »Verlag der Kunst Dresden« damals schikaniert wurden, ignorieren die darin entdeckte Kunst in einem viel schlimmeren Maß, als blinde ideologische Eiferer: durch Nichtachtung.

Man wünschte sich, dass an den Universitäten und Forschungseinrichtungen diese zugegeben ganz elementar politische Kunst viel stärker ins Blickfeld der Studierenden gerückt würde. Das Gegenteil ist der Fall. Ausgerechnet die Uni der Metropole einer von Neonazis bedrohten Region wagte es sogar, sich der Hans-und-Lea-Grundig-Stiftung als nicht mehr opportun zu entledigen. Der Greifswalder Rektor gab einer Denunziation nach und vergab die einmalige Chance, den heute so maßlos erweiterten Kunstbegriff auf seinen Kern zurückzubringen - den gerade von den Antifaschisten bewahrten Humanismus. Als der profunde Kenner Gerd Gruber sich dazu zu Wort meldete, wurde er sozusagen von Amts wegen abgewiesen. Falls es in Greifswald noch eine wache kultivierte Öffentlichkeit gibt, sollte sie zumindest Teile seiner Sammlung dort einmal zeigen.

Zwischen Bedrängnis und Widerstand. Grafiken und Gemälde der Jahre 1933-1945 aus der Sammlung Gerd Gruber in Wittenberg. Teil I bis 4.3.2012, Cranach-Stiftung, Mo-Sa 10-17, So 13-17 Uhr, Teil II bis 30.11.2011, Altes Rathaus, Di-So 10-17 Uhr

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