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Jede fünfte Stimme reichte nicht

Vor 65 Jahren: Die erste Nachkriegswahl in Berlin – SED versus SPD

  • Norbert Podewin
  • Lesedauer: 4 Min.

Am 28. Juni 1946 ließ die Alliierte Kommandantur die ersten Nachkriegswahlen für Berlin zu. Als Termin wurde der 20. Oktober bestimmt. Vier Parteien warben um Stimmen: die Christlich Demokratische Union Deutschlands (CDU), die Liberaldemokratische Partei Deutschlands (LDPD), die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) und die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED).

Zwei Monate hatte die Kommandantur um die Zulassung von SED und SPD gestritten. Der Grund: In der sowjetischen Zone war durch den Zusammenschluss von KPD und SPD die Einheitspartei SED entstanden. In den Westsektoren Berlins hatten sich 82,2 Prozent der SPD-Mitglieder für den Bestand der SPD ausgesprochen, wobei sich 61,7 Prozent eine Zusammenarbeit mit den Kommunisten vorstellen konnten. Als Fazit eines politischen »Tauschgeschäfts« wies die sowjetische Kommandantur Ende Mai an, sowohl die SED als auch die SPD in allen vier Sektoren zuzulassen. Das SMAD-Organ »Tägliche Rundschau« publizierte ein Gespräch mit dem Ex-Sozialdemokraten und nunmehrigen Paritätischen Stellvertreter im SED-Vorsitz, Max Fechner. Dessen Prognose zur Perspektive der SPD lautete: »Diese selbstständige Oppositionsgruppe wird zum unbedeutenden Schattendasein im politischen Leben Berlins verdammt sein. Sie wird zwischen einer starken und jungen Sozialistischen Einheitspartei und den Parteien der bürgerlichen Sammlungsbewegung hoffnungslos eingeklemmt und sie wird ohne jedes politische Gewicht sein.« Ein Irrtum, wie sich herausstellen sollte.

Im Wahlkampf war in Ost wie West die »lenkende Hand« der Besatzungsorgane unübersehbar. So verbot der französische Kommandant in seinem Sektor am 1. August die weitere Tätigkeit der Haus- und Straßenobleute. Die »Vorgabe« lieferten Amerikaner und Briten; sie hatten bereits ein Jahr zuvor dieses Verdikt ausgesprochen. Der US-Kommandant untersagte zudem am 20. September Hausversammlungen der SED, da sie »einen Versuch zur Umgehung der formellen Genehmigung öffentlicher Versammlungen« bedeuten würden.

Jede Partei setzte im Wahlkampf spezifische Schwerpunkte. Die CDU wollte »in einer im Großen planvoll gelenkten Wirtschaft die Selbstständigkeit ... aller Stände sichern und entfalten«. Die Liberalen lehnten »die Sozialisierung aller Produktionsmittel« ab, sprachen sich aber für »Kommunalwirtschaft« in Bereichen wie die »Versorgung mit Strom, Gas und Wasser und für den Verkehr« aus. Die SED verwies auf die Enteignung der Kriegs- und Naziverbrecher sowie die Bodenreform in der Ostzone, während »im Westen und Süden Deutschlands ... wieder die Junker und die Konzernherren« herrschten. Deshalb sei - zonenübergreifend - die »Einheit der Arbeiterbewegung« das »höchste Gebot«. Die SPD ging, gestützt auf Kurt Schumachers These von den »zwei Diktaturen«, in Frontstellung: »Am 20. Oktober muss sich der Berliner entscheiden, ob er wie im vergangenen Jahr und in den letzten zwölf Jahren weiter diktatorisch regiert werden will, oder mit der Sozialdemokratie eine neue Zukunft auf dem Boden der Demokratie und des Sozialismus wünscht.«

Berlins Trümmerlandschaft war im Herbst 1946 schlagartig mit Wahlplakaten überdeckt. Auf Kundgebungen im Ostsektor wurden - da offizielle Kritik an den Besatzungsmächten versagt war - Reizthemen wie die sowjetische Demontagen Berliner Betriebe, das ungewisse Schicksal der Kriegsgefangenen und die »verlorenen Ostgebiete« nur indirekt angesprochen. Die SED bekam dabei allseitig den Stempel »Russenpartei« aufgedrückt.

Die Wahlentscheidung am 20. Oktober wurde international wahrgenommen und überraschte Sieger wie Verlierer. Von den 2,4 Millionen Wählern (davon 63 Prozent Frauen) entschieden sich bei der Stadtverordnetenversammlung 48,7 Prozent für die SPD. Die CDU kam auf 22,2 Prozent, die SED mit 19,8 Prozent auf Rang 3; die Liberalen erhielten 9,3 Prozent Stimmen. Noch deprimierender für die SED waren die Bezirksergebnisse: In 19 Stadtbezirken siegte die SPD; nur Zehlendorf würde künftig einen CDU-Bürgermeister stellen.

Eine selbstkritische Stellungnahme des Verlierers blieb aus. Am 22. Oktober hieß es lediglich: Zwar habe jeder fünfte Wähler für die SED gestimmt, doch seien »die berechtigten Erwartungen ... nicht erfüllt worden«. Zum Wahlsieg hatte zweifellos auch der Name des SPD-Spitzenkandidaten beigetragen. »In der ersten Reihe der bewährten deutschen Kommunalpolitiker ist Dr. Otto Ostrowski zu nennen«, hob das Blatt »Der Sozialdemokrat« am 8. Oktober hervor. »Unvergessen sind seine Leistungen bis 1933 als Bürgermeister im Bezirk Prenzlauer Berg.«

Die Alliierten schrieben einen Allparteien-Magistrat vor. Am 5. Dezember 1946 wählten die neuen 130 Abgeordneten dann Otto Ostrowski zum Oberbürgermeister sowie zu seinen Stellvertretern Dr. Ferdinand Friedensburg (CDU), Dr. Heinrich Acker (SED) und Louise Schroeder (SPD). Unter den 14 besoldeten Stadträten befand sich, als Verantwortlicher für Verkehr und Versorgungsbetriebe, Ernst Reuter (SPD). Ostrowski und Reuter kannten sich aus gemeinsamen Amtszeiten seit 1926, Reuter war damals Stadtrat. Die Abneigung war beiderseitig. Ostrowski nannte den früheren KPD-Spitzenmann abwertend einen »Hoelz-Banditen«.

Reuter war erst am 29. November 1946 in Berlin eingetroffen. Dem Bruder Karl schrieb er selbstbewusst: »Ich habe mich nach anfänglichem Zögern dazu entschlossen, eine Wahl in den Berliner Magistrat anzunehmen. Wäre ich zwei Monate früher dagewesen, so wäre meine Wahl als Oberbürgermeister außer Zweifel gewesen.« Der Heimkehrer zeigte sich entschlossen, die Machtfrage in der Vier-Sektoren-Stadt baldigst neu zu stellen.

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