Warum nicht einfach die Wahrheit?

Eindrücke von der 54. Dokfilmwoche Leipzig

  • Christina Matte
  • Lesedauer: 4 Min.

Leipzig, Innenstadt, es schlägt zehn. Geschäfte, Warenhäuser, Cafés, Pizzerias, Marktstände öffnen. Von jetzt an bis in die Abendstunden wird man sich in Gassen, auf Straßen und Plätzen mühsam seinen Weg bahnen müssen. Fußgänger und Radfahrer, Touristen, Studenten, Anwohner. Die historischen Fassaden wie die hypermodernen schreien: New Yorker, Tom Tailor, Wempe, Christ, Mango, Tamaris usw.

Mittendrin, vergleichsweise flüsternd, Aufsteller und Infostände: Bis Sonntag noch ist in der Messestadt die Doku- mentar- und Antimationsfilmwoche zu Gast, die 54. inzwischen. Erdschwer hockt da auf weißem Grund ein Friedenstäubchen in der Ecke. Darüber das diesjährige Motto, Worte der Schriftstellerin Doris Lessing: Aber warum nicht einfach die Wahrheit?

Welche Wahrheit?

Eingereicht wurden 3012 Filme von allen Kontinenten. In die Auswahl gelangten 341 Filme aus 47 Ländern. Etwa 200 Filme, keiner von ihnen älter als ein Jahr, laufen im offiziellen Programm, die übrigen in Sonderreihen. Gezeigt werden sie in den Passagekinos, im neuen CineStar, der Schaubühne Lindenfels, der Cinéma-teque in der naTo und im Polnischen Institut. Das einstige Festivalkino »Capitol« gibt es nicht mehr. Im Petershof, wo es sich einst befand, ein weiterer Klamottentempel.

1955 war im Kino »Capitol« die erste Leipziger Kultur- und Dokumentarfilmwoche eröffnet worden. Die Dokumentaristen Annelie Thorndike aus Babelsberg, Karl Gass und Reinhart Stier aus Berlin, Hans Appeldorn und Walter Knoop aus Hamburg sowie Ludwig Thomé aus Heidelberg hatten es als deutsch-deutsches Festival begründet. Als der Kalte Krieg kälter wurde, ließ man das zarte Pflänzchen erfrieren. Die Urteilsverkündung im »Neuen Deutschland«: Das Festival offenbare »die Tendenz des deutschen Kultur- und Dokumentarfilms, im Meer der Mittelmäßigkeit zu versinken«.

Später, 1960, lebte es als Internationales Festival wieder auf. Das »Capitol« war rappelvoll. Vorstellungen von früh um acht bis nach Mitternacht. 1980 Sitzplätze, man saß auch auf den Stufen, in den Gängen. Blicke in die Welt. Joris Ivens, Michail Romm und Jane Fonda waren dort. 1989 platzte Michael Moore in einer Diskussionsrunde der Kragen: »Ich will jetzt wissen, was da draußen los ist!« Am 31. Dezember 1990 wurde die Festivaldirektion entlassen. Welche Wahrheit?

Versuche:

- »Seit zehn Jahren bin ich Wahlleipziger. DOKFILM-Wo- che, was soll das sein? Nein, noch nie davon gehört. Ich habe zu Hause keine Zeitung.«

- »Ich ginge gern mal wieder hin. Aber keine Zeit, die Arbeit.«

- »Vielleicht schaue ich mal vorbei. Ist ja nicht mehr wie früher, leider. Alles in Westhand, wissen Sie. Picassos Taube darf auch nicht mehr fliegen. Ich werde eher nicht hingehen.«

- »Zur Zeit studiere ich in Halle, englische Sprache und Literatur und deutsche Sprache und Kultur. Ich komme seit ein paar Jahren her, um mir Filme anzusehen. Das ist besser als Zeitung lesen, man bekommt authentische Einblicke und kann sich politisch bilden.«

Die Studentin aus Halle habe ich im Petersbogen, vor dem Eingang zum CineStar getroffen, zwischen »Cut & Color« und »Maggi-Kochstudio«. Wir werden gemeinsam die ersten Vorführungen des Tages erleben. Wir werden erfahren, wie es dazu kam, dass die EU von einem Belgier geleitet wird, den keiner kennt und der den Job nicht wollte - und dass dies wenig mit Demokratie zu tun hat. Und wir werden erleben, wie an der Grenze nach Gaza ein ominöser Koordinator bestimmt, was die Blockade passieren darf und was nicht. Das CineStar6 ist klein, aber gut gefüllt. Applaus. 1400 Kollegen aus aller Welt - Filmemacher, Produzenten, Fernsehjournalisten, Vertriebsexperten - haben sich akkreditieren lassen.

Neben dem Wettbewerbs- und dem offiziellen Programm gibt es Sonderreihen, so zu Indien und zum Arabischen Frühling. Und es gibt Hommagen - für Aktivisten des Festivals: Jürgen Böttcher, Strawalde, zum 80., Gitta Nickel zum 75. Gitta Nickel hat die DOKFILM-Woche seit 20 Jahren nicht mehr besucht. »Man hat nicht an uns gedacht, man hatte mit der Abwicklung zu tun.« Jetzt ist sie da. Unter anderem wird ihr Film von 1975 »? und morgen kommen die Polinnen« gezeigt. Die Polinnen arbeiten im KIM-Hühnerschlachthof, unter dem das Geschrei der am laufenden Band sterbenden Tiere, dem Rasseln der Produktionsketten. Geschwollene Hände, schmerzende Schultern, Tränen der Erschöpfung. Vor einigen Jahren sagte Gitta Nickel der »Märkischen Allgemeine«: »Viele meiner oft sehr kritischen Filme wurden quasi dadurch gerettet, dass sie vor internationalem Publikum auf der traditionsreichen Leipziger Dokfilmfestwoche vorgeführt wurden.« Auch dies eine Wahrheit. Natürlich schaut sich Gitta Nickel dieser Tage »nicht nur die eigenen Filme an«. Dokumentarfilmer sind neugierig.

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