Gesichter des Protests
Die Occupy-Bewegung hat keine Sprecher, aber viele Köpfe
Wolfram Siener war bisher das Gesicht der Bewegung. Ins mediale Scheinwerferlicht war der 20-Jährige eher zufällig geraten, wie er in zahlreichen Interviews immer wieder betont hatte. In der vergangenen Woche hatten die Medien den Jungen aus dem Frankfurter Umland zum Vorzeigeaktivisten erhoben, der stets engagiert und energisch wirkte, aber bei aller scharfen Kritik »am System« und seiner vehementen Forderung nach »Basisdemokratie« sogar auf Maybrit Illners Couch höflich und eloquent blieb. Siener entspricht so gar nicht dem Klischee des protestierenden »linksradikalen Chaoten«. Das mag in seiner politischen Sozialisation begründet sein: Die hat nämlich vor allem im Internet stattgefunden, etwa beim Anonymous-Netzwerk und dem Zeitgeist-Movement. Seine Nähe zu dieser obskuren sektenartigen Organisation trug ihm in den eigenen Reihen scharfe Kritik ein: »Dieser verschwörungstheoretische und esoterische Zeitgeist-Kram geht einfach gar nicht«, sagt ein Occupy-Aktivist. »Wenn ich ihn treffe, bekommt er auf jeden Fall was von mir zu hören.«
Allerdings wurde Siener schon ein paar Tage lang nicht mehr im Protestcamp gesehen. Wer am Wochenende nach ihm fragte, bekam dort als Antwort kollektives Achselzucken. »Ich glaub', er hat sich ganz von dieser Sprecherposition zurückgezogen«, vermutet eine junge Frau, die im Info-Pavillon Flyer verteilt. Genau weiß das aber keiner, man meldet sich nicht ab bei einer Bewegung, in die man auch nicht formal eingetreten ist, sondern bei der jeder einfach mitmachen kann. Wie Claudia, Luke oder Theresa.
Claudia Keth (25), Kulturanthropologie-Studentin
»Wer sind denn hier die Organisatoren?«, fragt eine Frau in eleganter, aber viel zu leichter Bekleitung. Es ist Mittagspausenzeit im Frankfurter Bankenviertel und die Zahl der Menschen im Businessoutfit, die durch den Park vor der EZB schlendern, steigt. »Alle sind Organisatoren!«, antwortet Claudia Keth lachend, woraufhin die Frau sichtlich verwirrt weiterzieht.
»Genau deshalb bin ich hier«, erzählt die KulturanthropologieStudentin aus Frankfurt, die zwar nicht zu den Zeltenden gehört, aber zum Mittagsplenum gekommen ist. »Weil ich glaube, dass ein gesellschaftliches Umdenken so in Gang gesetzt werden kann.« Das Protestcamp ist nach Keths Meinung ein optimales Forum, bei dem sich Menschen austauschen können, der Banker wie die Linksaktivistin. »Dadurch wird die Schweigespirale gebrochen«, lautet ihre Diagnose, was die Wirkung der Occupy-Aktion betrifft. »Wenn niemand ausspricht, was er wirklich denkt, erfährt er nie, ob er damit wirklich so allein ist, wie er glaubt. Durch die Proteste ist es ja mittlerweile schon fast salonfähig geworden, offen zu sagen, dass der Kapitalismus an sich das Problem ist.« Wann immer Arbeit und Studium es ihr erlauben, mischt sich Keth daher unter die Protestler, organisiert und diskutiert mit: »Na klar, reden ist auch nicht der letzte Schritt und irgendwann wird ziviler Ungehorsam unumgänglich sein«, glaubt die 25-Jährige, die sich zwar selbst als Sozialistin bezeichnet, es aber hinsichtlich einer Systemänderung mit Rudi Dutschke hält: »Die Revolution ist kein einmaliges Ereignis, sondern ein Prozess.« Und das Protestcamp, so Keth, ist Teil dieses Prozesses.
Luke Slater (20), Backpacker aus Kanada (Kitchener, Ontario)
Am Küchenzelt wird es hektisch, nachdem sich die neueste Essenspende herumgesprochen hat: Sauerbraten mit Rotkraut. Luke Slater, der seit Beginn des Protestcamps in der Vokü, der Volksküche, mithilft, ist nicht aus der Ruhe zu bringen; Zum gefüllten Teller gibt es bei ihm immer noch ein breites Lächeln dazu. So sehr der 20-jährige Kanadier wie in seinem Element wirkt, so zufällig ist er eigentlich hier: »Klar, ich hatte schon von den Occupy-Aktionen gehört, die gibt's ja auch in anderen Städten«, erzählt er. Dass der Lastwagenfahrer, der Luke von Bern aus mitgenommen hat, ausgerechnet nach Frankfurt fuhr, war jedoch zuvor nicht geplant gewesen: »Ich bin seit acht Monaten mit meinem Rucksack unterwegs durch Europa und fahre per Anhalter. Als ich am ersten Occupy-Tag in Frankfurt ankam, habe ich sofort das Protestcamp gesucht.« Obwohl er sonst nicht politisch aktiv ist, wollte er die Aktivisten unbedingt unterstützen: »Die Sache ist mir wichtig: Es ist doch nicht gerecht, dass es vielen Menschen in der Welt am Nötigsten fehlt, während Banken immer mehr Reichtum anhäufen.« Dass der Protest dabei immer friedlich geblieben ist, hat ihn beeindruckt, ebenso wie die Solidarität der Frankfurter Bevölkerung: »Darum bleibe ich auch bis zum Schluss. Es gibt für mich keinen Grund, abzureisen.«
Theresa (28), Politologie-Studentin
»Die Uni lasse ich diese Woche einfach mal Uni sein«, sagt Theresa und grinst. Seit Freitag ist die Politologie-Studentin wieder im Protestcamp, dabei war sie am Wochenende zuvor eigentlich nur zur Auftaktdemo aus ihrer niedersächsischen Heimat angereist: »Aber dann war ich sofort fasziniert von der Vielfalt der Menschen und Standpunkte und dem respektvollen Umgang miteinander.« Nach einem kurzen Zwischenstopp zu Hause ist sie daher zurückgekommen, ausgestattet mit wetterfestem Camping-Equipment und der Hoffnung, dass sich diesmal mehr bewegt als bei der ersten Welle der Finanzkrise vor zwei Jahren: »Damals war ich total frustriert darüber, dass so wenige Menschen aus meiner Generation aktiv geworden sind.«
Im Protestcamp findet sie vor allem die Möglichkeit, sich weiterzubilden und auf sehr unterschiedliche Perspektiven zu treffen: »Am Sonntag zum Beispiel habe ich mit einem Investmentbanker und einem Althippie über Auswege aus der Krise diskutiert«, erzählt Theresa, offensichtlich selbst noch immer erstaunt über die ungewöhnliche Szene. »Klar, der Banker hat für eine Restrukturierung der Banken argumentiert, der Hippie war mehr so für eine komplette Systemänderung und ich irgendwo dazwischen.« Früher sei sie auch mal radikaler gewesen, mittlerweile halte sie wieder mehr von sozialer Marktwirtschaft: »So, wie es momentan ist, nämlich dass Politiker Marionetten der Wirtschaft sind, muss es nicht notwendigerweise sein«, findet sie. »Klar, das System ist am Arsch, aber meiner Meinung nach ist die Lösung eine staatliche Regulierung der Banken.« Dann ertönt das Megafon und das nächste Plenum steht an, Theresa muss los: »Mehr als in der gleichen Zeit an der Uni lerne ich dabei allemal.«
Ralf (32), Gastronomie-Angestellter
Ralfs Hände sind klamm, als er sie um die erste Tasse Kaffee des Tages legt. Nur wenige Protestcamper haben sich bereits aus ihren Zelten gewagt, der Morgen ist klirrend kalt. Ralf, der eigentlich nicht so heißt, hat aber sowieso nicht geschlafen: »Ich hab' die ganze Nacht wach gelegen«, erzählt er, nimmt einen Schluck vom Kaffee und zieht die Sturmhaube wieder über den Mund. »So ein besoffener Russe hat ständig rumgestresst.« Stolz zeigt der 32-Jährige auf ein Zelt mit Piratenflagge: »Das ist meins, ich bin von Anfang an dabei gewesen.« Durch den Blog einer Freundin ist Ralf auf die Occupy-Bewegung aufmerksam geworden, obwohl er mit politischem Aktivismus sonst eigentlich nichts am Hut hat und noch nie zuvor auf einer Demonstration war: »Ich habe mich nie berufen gefühlt, gegen AKWs auf die Straße zu gehen und ich will auch nicht die Banken abschaffen, die brauchen wir ja schließlich.« Die Entscheidung, vor der EZB zu zelten, hat der Gastronomie-Angestellte spontan getroffen: »Als ich auf der ersten Demo die Menschenmassen gesehen habe, war ich begeistert«, erzählt er. »Endlich bewegt sich mal was!« Aus Rücksicht auf seine Mutter möchte Ralf nicht erkannt werden, will aber so lange bleiben, bis das Protestcamp aufgelöst wird: »Ich habe wirklich das Gefühl, hier gehöre ich hin.«
Kay Schulze (38), Angestellter bei Attac
Wieder hat jemand Essen gespendet, diesmal sind es zwei Kisten voller Bio-Gemüse, wenige Minuten zuvor hatte eine Frau drei selbstgebackene Kuchen vorbei gebracht. »Das Protestcamp erfährt eine unglaubliche Unterstützung von den Frankfurter Bürgern«, sagt Kay Schulze. »Und das, obwohl die politischen Botschaften eher schwammig sind.« Aus letzterem Grund ist der 38-Jährige mit einer gewissen Skepsis hergekommen: »Außerdem haben die meisten Leute hier keine Protestcamp-Erfahrung, weshalb es auf den Plena bisher ziemlich chaotisch zuging.« Ein bisschen genervt ist Schulze von diesem Mangel an Organisation und politischem Grundkonsens zwar schon - er organisiert hauptberuflich bei Attac Kampagnen, betont aber, als Privatperson hier zu sein - Engagement und Motivation der Protest-Neulinge findet er hingegen phänomenal: »Das Camp ist ja quasi aus dem Nichts entstanden und schon allein aufgrund seiner Existenz ein Politikum.« Daher könnte die politische Heterogenität auch als Stärke des Camps aufgefasst werden, das sich nach seiner Prognose allein aufgrund der unwirtlichen Witterung bald lichten wird: »Egal, wie es danach weitergeht, für viele Menschen hat sich hier zum ersten Mal ein Diskussionsfenster geöffnet.« Vorher soll aber noch möglichst viel passieren, darum zieht Schulze los, um die Organisatoren der nächsten Demo zusammenzutrommeln.
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