Friedlicher? Ja. Vielleicht

Im Kino: Over Your Cities Grass Will Grow – die Kunst des Anselm Kiefer

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Die beiden kleinen Jungs laufen, während Anselm Kiefer spricht, durchs Bild und beweisen das Große, was im Kleinen, Privatesten immer am besten zu beweisen ist: den geradezu natürlichen geschichtlichen Gegensatz zwischen Plan und Resultat. Denn die Jungs (Söhne?) versuchen, eben weil Anselm Kiefer spricht, möglichst leise, am besten unhörbar, die Szene zu durchqueren. Und just das misslingt in ausgemacht überdeutlichem Lärm. So ist es regelmäßig, so ist es Regel: Wir tun, was wir verhindern wollen; alle Intelligenz verbraucht sich im Widerspruch zur guten Absicht.

Seit die Kinder in diesem Film sichtbar wurden, verlässt die eine Frage nicht den Kopf des Betrachters: Wie können Kinder hier leben? In dieser Landschaft des ruinösen, aufgebrochenen, drohend getürmten, schachttief zerbohrten, quasi wild gewordenen Steins. In diesem Areal des in die Einsamkeit ausgesetzten dünnen Lichtstrahls, der zerfetzten Materialien, des gescherbten Glases, der ausgekühlt-erstarrten Bleirinnsale, des gepressten Bleches und der giftig glänzenden Wasserlachen.

Die Frage ist unsinnig, weil Realität nicht aus sich heraus auf uns wirkt, sondern durch Erinnerung oder vorausschauenden Traum. Interpretation erst schafft den Raum unserer Ängste und Freiheiten. Das Zerstörte, Geborstene, chaotisch Verwitternde ist dem erinnerungslosen Kind nichts weiter als ein großartiger Abenteuerspielplatz, auf dem selbst die größte Furcht ein erstrebenswerter Kitzel bleibt.

Das wird erst in späteren Jahren anders, und die bizarr von Verwesung und Verunreinigung befleckten Gebilde des Anselm Kiefer erzählen, dass wahre Kunst nicht aus Fantasie entsteht, sondern aus Angst vor ihr. Aus begründeter Angst vor der Vorstellung, was Existenz war, ist und bleiben wird: unter der Flagge der Weltgründungen doch ein Abbruchunternehmen; im Zeichen der glühenden Vernunft ein Brandherd; wir wollen Grenzen sprengen, und es sind nur unsere eigenen Häuser.

Anselm Kiefer aus Donaueschingen, spielendes Kind in den Ruinen des Zweiten Weltkrieges, ist zu einem Großbildner des Zusammenhangs von Flamme und Asche, Wuchs und Zerfall, Tempel und Trümmer geworden. In der Nähe der südfranzösischen Stadt Barjac hat er eine verlassene Seidenfabrik bezogen und dort, bis 2008, fünfzehn Jahre gelebt, gearbeitet, »La Ribaute« zu einem Museum des Gesprächs aufgebaut: Der Wind spricht mit den Kieseln, der Himmel mit den aufragenden Türmen aus Betonquadern, der Regen mit den Eisenplatten, der Sonnenschein mit den einsam blinkenden Glühlampen in Katakomben. Hinten die Höhenzuge der Cevennen.

Überall Blei (vor allem Bücher aus Blei), dies Metall des Tötens und des Schmucks, dies Metall des Saturns und der Melancholie. Eine Welt aus Stahlrohren, Stahladern, abrupt ragenden Skulpturen; die Natur im kalten, bedrohlichen (ja, natürlich: sinnvoll einschüchternden) Gespräch mit der Kultur über die Spannungen zwischen Formung und Verformung. Auch über die unsichtbare Linie zwischen Entstehen und Versinken.

Über dieses »La Ribaute« hat die Britin Sophie Finnes einen 105-minütigen Film gedreht, sie beobachtete Kiefer bei der Schwerarbeit, die nur mit Assistenten bewältigt werden kann, und mit Planierraupen, Schweißbrennern, Walzen, Kränen. Es staubt, es kracht, es knirscht, es zischt. Der Künstler fast immer in einem langen weißen Hemd, dessen Ärmel über die Hände reichen; ein fast heiliges, zart widerstandswirkendes Textil im Fabriks- und Bergbauambiente. Musik von György Ligeti, nur wenige Sätze Kiefers (im Gespräch mit dem Journalisten Klaus Dermutz, für das inzwischen bei Suhrkamp erschienene Interviewbuch »Die Kunst geht knapp nicht unter«). Ansonsten nur Kamerafahrten, lange Blicke, die Reste unten am Boden als Folge von Abstürzen weit oben.

Pritschen, Wannen aus Metall, an der Wand der widmende Schriftzug »... den Frauen der Revolution«, Verse von Bachmann, Celan. Keller unter freiem Himmel, Zimmer wie Höhlen, das Unterste zuoberst, Sonnenblumen hängen wie Pendel, uhrenlos. Wie Erhängte. In einem Verliesgang steht ein betonumstaubter Baum. Jeder Ort eine Fremde. Wuchernde Archaik, als wolle, müsse sich dieser Künstler permanent gegen eine Kultur wehren, die Todesschreie nur immer in klangvolle Sonette umwandeln will. »La Ribaute« wirft sich so kolossal auf, als sei nur im Übermaß Wahrheit zu finden, und hier, wie in jedem Übermaß, vermeint man das Keuchen eines göttlichen Torsos zu verspüren. Künstlers Ehrgeiz: das unumgängliche Scheitern an der Dauer in möglichster Vollendung zu zeigen. Diese Vollendung liegt in der Übergabe des Werkes an die Natur, die es weiter bearbeitet. Ver-Nichtung. Ergebenheit in gesetzliche Kreisläufe.

Kiefers monumentale Akte gegen die Lügenpose des Monumentalen sind verschmutzte, verschlammte, durchnässte Übungen in Dissonanz - in deren Herz aber eine seltsame Harmonie ruht: tiefes Einverständnis mit der Despotie einer Zukunft, von der es auf einem der Bleibücher Kiefers heißt: »Über euren Städten wird Gras wachsen.« Over Your Cities Grass Will Grow. So heißt der Film. So heißt es bei Jesaja.

Der Schriftsteller Christoph Ransmayr schrieb vor Jahren, durch »La Ribaute« streifend: »Und im Grün der Zukunft wird keiner von unseren Schritten und irgendwann auch keine andere menschliche Stimme mehr zu hören sein. Über alles unter diesem Himmel, über alle diese Straßen, Wege, schließlich in Trümmer und Scherben gefallenen Glashäuser und in die Erde zurückgesunkenen Olivenhaine wird Gras wachsen, bis alles wieder sein wird, wie es ohne uns war. Friedlicher? Ja, friedlicher. Vielleicht.«

Filmkritischer Wille versagt da. Du schaust und ahnst Kiefer. Mehr nicht, es ist viel. Mehr als ein Ahnen geht nicht. Bohrte sich der Film ins Werk, wäre das Werk überflüssig. Das Werk spricht nicht für sich, nicht für den Künstler, nicht für sonst wen. Es spricht. Sieh und spür oder spür nicht.

Diese Bilder bewirken Widerstand, weil man ja lebt, sich nicht erdrücken lassen möchte unter Bunkern, Blei, Brandmüll. Der Widerstand des Betrachters gehört zum Bild. Falsch, wer angesichts dieser Welt vom allgegenwärtigen Tod spricht: Wachstum ist ewig. Sieh das Gras, die Wiese, noch immer das Schönste, was uns blüht. Das Endgültigste. Und Erinnerung erzählt nicht, was war, sondern was uns bevorsteht.

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