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Nachricht von Lynx lynx

In Bayern wird die junge Luchspopulation intensiv erforscht. Manche Tiere haben sogar eine Telefonnummer

  • Sabine Dobel, dpa
  • Lesedauer: 7 Min.
Vor mehr als 150 Jahren haben die Menschen sie ausgerottet, jetzt sind sie Aushängeschild und Werbeträger: Die Luchse sind wieder heimisch in Deutschland - die größte Population lebt im Grenzgebiet zwischen Bayern, Tschechien und Österreich.
Der Luchs ist die größte Wildkatze Europas, die Alttiere werden bis zu 1,20 Meter lang.
Der Luchs ist die größte Wildkatze Europas, die Alttiere werden bis zu 1,20 Meter lang.

Grafenau. Tessa ist ganz nah. Über dem Bach, keine 100 Meter entfernt, streift die Luchskatze durch das dichte Grün des Nationalparks Bayerischer Wald. Horst Burghart hat sie mit seiner mobilen Antenne geortet. Tessa trägt ein mit GPS und Minisender ausgerüstetes Halsband, von dem Burghart, früher Ranger und heute Luchsforscher, jetzt die Daten herunterlädt. Sehen wird er Tessa auch diesmal nicht: Sie lebt im Verborgenen, genau wie die anderen Luchse.

Meist finden die Mitarbeiter des Luchsforschungsprojekts nur Spuren, Kot oder Überreste von Mahlzeiten: gerissene Rehe, Hasen und Rothirsche. Insgesamt 16 Luchse (lat. Lynx lynx) leben derzeit im Nationalpark Bayerischer Wald und im angrenzenden tschechischen Park Sumava. Es ist neben dem Harz die größte Luchspopulation Deutschlands.

Wie ihre Schützlinge aussehen, wissen die Mitarbeiter der beiden Nationalparks und des WWF Deutschland, der das Forschungsprojekt unterstützt, nur durch Fotofallen im Wald. Informationen über ihre Streifzüge erhalten sie zudem teils über SMS - Tessa hat dafür ebenso wie vier weitere besenderte Luchse sogar eine eigene Telefonnummer bei der Deutschen Telekom.

Ein Einzelgänger

Zusätzliche Daten können die Forscher direkt vom Halsband herunterladen, wenn sie nahe genug an die Tiere herankommen - wie gerade eben Burghart an Tessa. Angestrengt hält er die Antenne in Richtung Dickicht - das Gerät ist schwer, und es dauert Minuten, bis das Display endlich anzeigt: »All data has been saved.«

Als erster Luchs weltweit bekam Milan zum Start des Projekts 2005 ein Halsband mit Telekomanschluss verpasst. Liebeshunger trieb den heute zehnjährigen Luchs damals den Forschern zu. Sehnsüchtig sprang er während der Paarungszeit in ein am Nationalpark gelegenes Luchsgehege zu seiner Luchsdame - und schaffte es nicht mehr hinaus. Bevor die Luchsforscher ihn in die Freiheit entließen, legten sie ihm das rund 3500 Euro teure Band mit dem Sender um den Hals.

Mit Hilfe der Sender, aber auch anhand der Bilder aus den seit 2009 aufgestellten 60 Fotofallen mit je zwei Kameras, erfahren die Mitarbeiter des Pilotprojekts Einzelheiten über das Leben der Wildtiere. Daten aus dem Halsband zeigen die Standortkoordinaten und - anhand von Beschleunigungsdaten - die Aktivität des Luchses. Das scheint nicht viel zu sein, doch können die Forscher daraus etwa Fressgewohnheiten oder das Verhalten bei der Aufzucht der Jungen rekonstruieren sowie Wanderrouten und Ruheplätze erkennen.

Tessa, Milan und die anderen bevorzugen beispielsweise Südwestlagen - auch Luchse lieben es sonnig. »Im Südwesten, wo es am Abend noch warm ist, da taugt's ihnen«, sagt Burghart. Dass sie manchmal in der Nähe von Ortschaften im Wald herumstreifen, hätten er und seine Kollegen ohne die GPS-Ortung niemals geglaubt.

Anders als in Oberbayern, wo ein eingewanderter Wolf Eltern in Angst um ihre Kinder versetzte und Bauern wegen der gerissenen Schafe in Rage brachte, sind die Anwohner im Bayerischen Wald stolz auf »ihre« Luchse. »Bei uns hört man ab und zu mal einen Luchs schreien. Trotzdem fürchtet sich keiner«, berichtet Heidi Kraus-Mühlbauer aus Bayrisch Eisenstein, Mutter eines achtjährigen Sohnes und einer 14-jährigen Tochter. Gemeinsam mit Schule und Gemeinde haben Eltern einen Luchsparcours eingerichtet, auf dem Kinder spielerisch Einzelheiten über die Raubkatze erfahren.

Nur ein einziges Mal hat Kraus-Mühlbauer selbst einen Luchs gesehen: Im tiefen Winter strich er bei Vollmond durch den Garten, vermutlich hatte er es auf Hühner im Stall des Vaters abgesehen, doch die waren gut eingesperrt. »Das war einmalig - einen Luchs sieht man eigentlich nicht.«

Der Luchs lebt sehr unauffällig, er ist ein Einzelgänger und kein Herdentier. »Er hat ein ganz anderes Verhalten als der Wolf«, erläutert Nationalparksprecherin und Agrarbiologin Stephanie Jaeger. Mit seinen Pinselohren, dem Stummelschwanz und den großen, flauschigen Tatzen, die ihn im Winter wie Schneeschuhe tragen, wirkt er außerdem plüschig und viel sympathischer als der Wolf. »Es gibt keinen Rotkäppcheneffekt - und es heißt ja auch nicht: Der Luchs und die sieben Geißlein«, sagt Jaeger. Dabei wird der Luchs durchaus auch großen Tieren gefährlich, jagt Rotwildkälber und manchmal sogar ausgewachsene Hirschkühe. Er verdrückt - zum Leidwesen mancher Jagdpächter, die mit 50 Euro je Tier entschädigt werden - im Jahr schon mal 50 Rehe.

Beute mit Sender

Deshalb haben die Forscher auch Dutzende Rehe besendert. »Wir wollen sehen: Was nimmt der Luchs, und wie reagieren die Rehe auf den Luchs«, sagt Burghart. Auch das Verhalten der Rehe ändere sich - sie werden wachsamer. Rehe und Luchse halten derzeit in Teilen des Parks ein natürliches Gleichgewicht. Auf 13 000 Hektar wurde die Jagd eingestellt. »Trotzdem blieb der Verbiss die letzen vier Jahre stabil«, berichtet Projektleiter Marco Heurich. »Der Luchs ist ein Symbol für eine großflächig intakte, zusammenhängende Waldlandschaft«, sagt er. Den vor mehr als 150 Jahren in der Region ausgerotteten Luchs wieder heimisch zu machen in der dicht besiedelten Kulturlandschaft, darin sieht Heurich jedoch weniger eine biologische Notwendigkeit als eine »ethische Verpflichtung, Arten, die ausgerottet wurden, zurückzuholen«.

Mit 16 Luchsen sind das insgesamt fast 1000 Quadratkilometer große Nationalparkgebiet und umliegende Wälder in Bayern und Tschechien im Prinzip besetzt. Ein Luchs braucht 200 bis 400 Quadratkilometer Platz, dabei überlappen freilich die Reviere von Männchen und Weibchen, und die Luchse halten sich nicht an Parkgrenzen. Trotz der dichten Besiedelung sorgen sich die Mitarbeiter von Nationalpark und WWF um den Bestand. Sie fürchten Inzucht, weil die Population sehr klein ist. »Das untersuchen wir derzeit«, sagt Heurich. In dem gesamten Verbreitungsgebiet, das sich vom Fichtelgebirge bis Österreich hinunterzieht, schätzte man die Zahl der Luchse vor zehn Jahren auf 75, aktuelle Zahlen gibt es nicht.

Die Pinselohr-Katze ist im Bayerischen Wald längst ein wichtiges Marketinginstrument für den Tourismus geworden. Bayrisch Eisenstein und das ebenfalls am Nationalpark liegende Lindberg haben den Luchs als Patentier gewählt, beide Gemeinden verbindet ein »Luchspfad«. Zwar wird kaum ein Urlauber je einen wilden Luchs zu Gesicht bekommen, aber auf Tourismusprospekten prangen bunte Hochglanzbilder der Großkatzen, aufgenommen im Gehege.

Manche Berghütte und einige Waldführer zeigen auch Bilder der freien Luchse aus den Fotofallen. Zu sehen sind Wildkatzen, die durch die Nacht schleichen oder aufgeschreckt in den Blitz blinzeln - die Bilder sind willkommenes Nebenprodukt der Forschung. Die Luchsforscher indes können manchmal eindrücklich das Heranwachsen einer Wildkatze verfolgen. Der 2008 geborene Kika etwa ist erstmals als ganz kleiner Luchs zusammen mit der Mutter in die Falle getappt: Niedlich sieht er aus mit der runden Nase und den großen Pfoten. Monate später ist er schon viel größer, zunächst Teenager, dann ein kräftiger ausgewachsener Luchs.

Verlassenes Wohnzimmer

Forstwissenschaftlerin Kirsten Weingarth identifiziert ihn wie alle ihre Schützlinge anhand seiner biometrischen Daten: Die Musterung des Fells ist ebenso unverwechselbar wie ein Fingerabdruck oder die Iris im Auge - nur dass es bisher keine ausgereifte Luchs-Erkennungs-Software gibt. Weingarth vergleicht die Fotos. Bei Kika etwa erkennt sie auf dem Rücken eine Musterung, in der sie ein Gesicht sieht: »Augen, Nase, Mund«, sagt sie und deutet auf die Flecken. Besonders hübsch komme aber Milan heraus: »Er hat die Gabe, schöne Fotos zu machen.«

Trotz der Forschung ist vieles offen. Die Projektmitarbeiter wissen nicht, ob Kika der Vater von Tessas Jungen ist, oder vielleicht doch der ältere Milan. Die DNA- Analysen werden zur Zeit am Institut für Zoo- und Wildtierforschung in Berlin durchgeführt und die Ergebnisse mit Spannung erwartet. Und wen Tessa wann getroffen hat, ist trotz Ortung über das Halsband nicht herauszufinden. Die Daten werden alle zwei Stunden, je nach Einstellung auch nur zweimal am Tage registriert.

Auch was die Tiere zu bestimmten Wanderungen bewegt, warum einige bleiben und andere weiterziehen, kann oft nicht ganz geklärt werden. Warum Milan etwa ein sonniges Plätzchen - »sein Wohnzimmer«, wie Burghart es nennt - plötzlich doch verließ, darüber kann nur spekuliert werden. Möglicherweise musste er dem jungen Kika Platz machen.

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