Verblasst die Erinnerung?

Andrée Leusink über das Gedenken an die Reichspogromnacht / Leusink ist politisch aktiv bei den »Überlebenden Kindern der Shoah«. Sie ist die Tochter des DDR-Schriftstellers Stephan Hermlin

  • Lesedauer: 3 Min.
Fragwürdig: Verblasst die Erinnerung?

ND: Die Berliner Demonstration, die alljährlich zum Gedenken an die Reichspogromnacht stattfindet und auf der Sie heute sprechen werden, gibt es seit 1990. Wie viele beteiligen sich an ihr?
Leusink: Die Zahl schwankt von Jahr zu Jahr. Sicherlich spielt eine Rolle, wie gegenwärtig den Leuten gerade die Gefahren sind, die von Antisemitismus, Rassismus und Neonazismus ausgehen. In der Regel reihen sich etwa 500 Menschen bei der Gedenkkundgebung und der anschließenden Demonstration ein.

An der Demonstration nehmen zumeist dieselben linken Gruppen teil. Warum bleibt eine Beteiligung von liberalen Bürgern oft aus?
Ja, das ist ein Problem. Ursache ist, dass man bis zu einem gewissen Grad sich mit Naziverbrechen nicht mehr beschäftigen will und einen Schlussstrich ziehen möchte. Es gibt andere Sorgen. Hinzu kommt die allgegenwärtige Rot-gleich-Braun-Propaganda. Ich beobachte, dass in der offiziellen Politik und von vielen aus dem bürgerlichen Lager der Stalinismus und die Nazizeit gleichgesetzt werden. Das spielt eine große Rolle. Resultat ist, dass der Holocaust praktisch nicht mehr als einzigartig betrachtet wird. Dieser geschichtsvergessene Umgang fördert natürlich nicht die Sensibilität für antisemitische Umtriebe in der Gegenwart.

Heißt das, dass die Erinnerung an die Gräuel des Nationalsozialismus verblasst oder man sich in großen Teilen der Bevölkerung nicht mehr erinnern will?
Ja. Was mich vor allen Dingen erschreckt, ist, was im Bildungswesen passiert. Ich gebe ja noch ein bisschen Nachhilfeunterricht, und da erlebe ich Gymnasiasten, die wenig über den deutschen Faschismus Bescheid wissen. Ich spreche nicht von den anderen, die oft nicht mal mehr wissen, was eigentlich während der NS-Zeit passiert ist und die mich danach fragen.

Das deutet auf gravierende Missstände im deutschen Bildungswesen hin.
Für meine Begriffe ja. Ich habe auch einzelne Schüler, die zumindest wissen, wer Adolf Hitler gewesen ist. Ich will nicht sagen, dass sie über alle Gräueltaten aufgeklärt sind, aber zumindest einige wissen, dass das eine dunkle Zeit in der Geschichte war.

Selbst das wäre ja ein eher bescheidenes Wissen.
Ja, ganz bescheiden. Ich habe zum Beispiel mit Schülern darüber gesprochen. Und da habe ich Aufklärungsarbeit leisten müssen. Da wusste nicht einer Bescheid, was der 9. November 1938 gewesen ist. Nicht einer.

Was wäre Ihrer Ansicht nach zu tun, um diesen Bildungsmissständen abzuhelfen?
Man müsste einen besseren Deutsch- und einen besseren Geschichtsunterricht geben. Und die Lehrer müssten sich mehr engagieren.

Der Beginn der Deportationen jährt sich nun zum 70. Mal. Was kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie in Berlin Plakate der NPD sehen, auf denen groß der Slogan »Gas geben« steht?
Ich fand das enorm, dass man diese NPD-Plakate nicht abgenommen hat. Ich habe geheult, um es ganz offen zu sagen. Ich habe dagestanden und gedacht, das kann nicht sein, dass die Leute sich darüber nicht aufregen.

Interview: Thomas Blum

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