Der Fluch hält an

Das ugandische Dorf Kasensero ist der Ursprungsort der ersten Aids-Epidemie

  • Philipp Hedemann, Kasensero
  • Lesedauer: 6 Min.
Vor 32 Jahren brach im Fischerdorf Kasensero am Victoriasee in Uganda erstmals Aids als Epidemie aus. Auch heute sind viele der Bewohner des trostlosen Dorfes mit der tödlichen Krankheit infiziert. Ein Ortsbesuch zum heutigen Welt-Aids-Tag.
Viele der Fischer am Victoriasee haben schon Familienmitglieder an Aids verloren und sind selbst HIV-positiv.
Viele der Fischer am Victoriasee haben schon Familienmitglieder an Aids verloren und sind selbst HIV-positiv.

Nantongo Rose war die erste. Ihre Haut wurde gelb, ihre Haare grau, sie magerte ab, während ihre Arme und Beine anschwollen. Sieben Monate später erlöste ein Fieberschub sie von ihren Qualen. Die Bewohner des kleinen Fischerdorfs Kasensero am Ufer des Victoriasees in Uganda dachten zunächst, die 30-Jährige sei von einem Muteego-Fluch, der ganze Familien auslöschen kann, belegt. Erst Jahre später erklärten Forscher den Dorfbewohnern, dass die Händlerin einer neuen Krankheit zum Opfer gefallen sei.

»Mr. Kawnaga war der zweite. Er hatte die gleichen Schwellungen wie Nantongo. Doch seine Haut wurde nicht heller, sondern immer dunkler. Er magerte ab, hatte immer Durchfall, ein paar Monate später war auch er tot. Wer Nummer drei war, weiß ich nicht mehr«, sagt Abdu Senkima, während der Regen auf das Wellblechdach seiner Hütte trommelt. Mit 60 Jahren gehört der Bauer zu den Ältesten in Kasensero. Mehr als 20 seiner Familienangehörigen sind an Aids gestorben.

Im Oktober 1978 hatte der ugandische Diktator Idi Amin das Nachbarland Tansania angegriffen. Ab 1979 drangen tansanische Truppen in das nur wenige Kilometer von der Grenze entfernte Kasensero ein. »Idi Amin hatte uns gewarnt, dass die Tansanier uns mit einem schrecklichen Tripper infizieren würden und uns die Haare ausfallen würden. Genau das passierte«, erzählt Senkima.

Aids betraf bald alle Familien

Der Bauer erinnert sich, wie Familienangehörigen und Freunden Gliedmaßen abfaulten, während Ärzte hilflos zusahen; wie Töchter ihre Eltern verloren und später selbst Kinder zur Welt brachten, die bald als Waisen aufwuchsen. »Weil die Kranken so schrecklich abmagerten, haben wir die unheimliche Krankheit, die bald jede Familie befallen hatte, ›Slim‹ genannt. Das Leben in unserem Dorf kam fast zum Erliegen. Kaum jemand hatte noch Kraft, zum Fischen auf den See zu fahren. Die, die noch Kraft hatten, mussten die Toten begraben. Die Schneider waren damit beschäftigt, enge Hemden für die Abgemagerten zu nähen.«

Da lange niemand wusste, woher die Krankheit kam und wie sie übertragen wurde, breitete die Seuche sich schnell im ganzen Dorf und über die Fischer an den Ufern des Victoriasees in Uganda, Kenia und Tansania sowie über Trucker und Prostituierte auf dem East African Highway in ganz Ostafrika aus. »Ich glaube, in einem Jahr starben in unserem Dorf über 300 Menschen. Wenn wir irgendwo anders hinziehen wollten, wurden wir geächtet. Die Ärzte spritzten den Leuten wirkungsloses Zeug und benutzten immer die gleiche Nadel. Wir wussten nicht, dass es dadurch nur noch schlimmer wurde. Und Kondome gab es hier damals nicht«, so Senkima.

Heute gibt es Kondome, aber der Gebrauch ist nicht gerade populär. »Mit kostet 5000 bis 10 000 Schilling (umgerechnet 1,44 bis 2,89 Euro), ohne ab 20 000 Schilling (5,78 Euro). Die meisten wollen es ohne«, erzählt Proscovia Birungi. Bis zu fünf Männer empfängt sie jeden Tag in ihrer Hütte, die nicht viel größer als ihr Bett ist. Dass sie HIV-positiv ist, erzählt sie ihren Freiern nicht. Die meisten wollen es ohnehin nicht wissen. Seit drei Jahren arbeitet die 25-Jährige als Prostituierte. »Viele Mädchen machen es ohne Kondom, ich nur mit, auch wenn ich dafür weniger Geld kriege und eigentlich nichts zu verlieren hätte«, flüstert die Frau mit den ausgeschlagenen Frontschneidezähen. Nur mit dem Vater ihres Sohnes will sie ungeschützten Sex gehabt haben. »Erst hat er mich angesteckt, dann hat er mich verlassen«, sagt Birungi. Eigentlich war die gelernte Friseurin ins nach Hoffnungslosigkeit und vergammelndem Fisch stinkende Kasensero gekommen, um in einer der vielen Bars zu kellnern. Doch als ihr Chef mehrere Monate keinen Lohn zahlte, begann die Alleinerziehende sich zu prostituieren.

»Ich habe meine Würde verloren. Ich weiß, dass Gott mich jederzeit zu sich nehmen kann. Aber mein Sohn ist erst fünf Jahre alt. Er ist gesund. Er soll einmal Doktor werden und Aids-Kranken helfen«, sagt die hübsche Frau, die heute noch keinen Kunden hatte. Dann muss sie los. Die Männer sind zurück vom See.

Am schmutzigen Strand heben die Fischer ihren Fang - Viktoriabarsche und Tilapia - aus ihren schlanken Holzbooten. Viele der Männer sind betrunken, einige von ihren werden heute noch Proscovia oder eine ihrer Kolleginnen in ihren dunklen Kammern aufsuchen. »Natürlich nur mit Kondom«, lallt der 27-jährige Vincent Kiyimba, und seine Kollegen, die alle schon Familienmitglieder und Freunde an Aids haben sterben sehen, lachen und klopfen sich auf die Schultern. Ob Kiyimba es ernst oder ironisch gemeint hat, verrät er eben so wenig wie die Tatsache, ob er HIV-positiv ist oder nicht. Einer seiner Kollegen ist da offener. »Ich benutze nie ein Kondom«, brüllt Dan mitten ins Gelächter. »Das bringt doch überhaupt keinen Spaß«, grölt der Fischer. Der 45-Jährige weiß seit sieben Jahren, dass er HIV-positiv ist.

Männer wie Dan sind es, die Moses' Bemühungen wie einen Kampf gegen Windmühlen erscheinen lassen. Der ehemalige Fischer erfuhr vor acht Jahren, dass er HIV-positiv ist, seitdem arbeitet er ehrenamtlich als HIV-Berater in Kasensero. »Ich kläre über die Ansteckungsgefahren auf, verteile Kondome und achte darauf, dass die Patienten regelmäßig ihre Medikamente nehmen. Aber die Fischer sind oft völlig verantwortungslos. Vor allem wenn sie HIV-positiv, betrunken oder beides sind«, stöhnt der 42-Jährige, der selbst nicht so genau weiß, wann und wie er sich angesteckt hat. Moses sah drei seiner Kinder sterben. Die Todesursache ist nie untersucht worden. Moses, der mittlerweile von der ebenfalls HIV-positiven Mutter seiner Kinder geschieden ist, kann sie sich aber denken.

Kein positiver Trend in Kasensero

Weltweit gibt es im Kampf gegen Aids Erfolge. 2,7 Millionen Menschen infizierten sich im Jahr 2010 mit dem HI-Virus - 1997 waren es noch 3,4 Millionen. Das geht aus dem dieser Tage vorgestellten Bericht des Aids-Bekämpfungsprogramms der Vereinten Nationen (UNAIDS) hervor. In Kasensero ist von diesem positiven Trend nicht viel zu spüren. Zwar setzte Ugandas Präsident Mouseveni den Kampf gegen Aids ganz oben auf die Agenda, Wissenschaftler aus aller Welt pilgerten in den Süden Ugandas, um die Krankheit zu erforschen, mittlerweile haben fast alle infizierten Bewohner Kasenseros kostenlosen Zugang zu antiretroviralen Medikamenten.

Doch Professor Joseph Konde-Lule, renommierter Seuchenforscher an der Makerere-Universität in der ugandischen Hauptstadt Kampala, findet, dass im Kampf gegen HIV und Aids immer noch nicht genug getan wird. »Wir wissen nicht, wie man Aids heilen kann. Aber wir wissen seit 30 Jahren, wie man neue Ansteckungen verhindern kann. Wir müssen durch Aufklärungsarbeit die Prävention verbessern. Doch das ist teuer und Uganda ist ein armes Land. Wir brauchen mehr Unterstützung aus dem Ausland«, sagt Konde-Lule. UNAIDS-Geschäftsführer Michel Sidibé pflichtet dem ugandischen Experten bei, schließlich leben allein 70 Prozent der Neuinfizierten in Afrika südlich der Sahara.

In dem zu trauriger Berühmtheit gelangten Fischerdorf Kasensero freuen sich nicht alle über die verbesserte Versorgung mit Medikamenten. Dorfvorsteher Abdu Senkoma sagt: »Als wir Aids noch ›Slim‹ nannten, konnte man wenigstens sofort sehen, wer gesund und wer krank ist. Jetzt ist es gefährlicher.«

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