»Die Regierung fährt eine Pannenstrategie«

Kenan Kolat über leere Gedenkrituale und die anhaltende Scheu der Bundesregierung vor dem Wort Rassismus

  • Lesedauer: 4 Min.
Viel ist über die Täter berichtet worden, die Nazimörder vom »Nationalsozialistischen Untergrund«. Heute gedenkt die politische Öffentlichkeit ihrer Opfer. Mit einer Rede der Bundeskanzlerin, mit einer Gedenkminute. Zugleich regt sich Kritik an der rituellen Zeremonie. Zu wenig werde getan, die Ursachen der Verbrechen zu ergründen, um Wiederholung auszuschließen.

nd: Was erwarten Sie vom heutigen Staatsakt für die Opfer des rechten Terrors?
Kolat: Dass den zu Unrecht verdächtigten Opfern die Ehre zurückgegeben wird. Dass die Bundeskanzlerin eindeutig sagt, dass nichts unter den Teppich gekehrt wird. Und dass sie die Bevölkerung ermuntert, mehr Engagement gegen Rassismus zu zeigen.

Heute wird viel die Rede sein von Vielfalt, Offenheit, Toleranz usw. Doch am Ende bleibt das Gedenken ein leeres Ritual.
Ich hoffe, dass sich das nicht in solchen leeren Ritualen erschöpft. Als wir 1992/93, nach den Morden in Mölln und Solingen, solche Veranstaltungen selber durchgeführt haben, gab es auch schon dieses Ritual. Was die Politiker damals gesagt haben, kann man heute wortwörtlich übernehmen, da hat sich nichts verändert. Es ist wichtig, dass man Rassismus verurteilt, aber das reicht nicht aus. Dazu muss noch eine eindeutige Strategie gegen Rechts kommen.

Haben Sie den Eindruck, dass es eine solche Strategie gibt?
Die Bundesregierung fährt zur Zeit eher eine so genannte Pannenstrategie. Wir wollen eine Strategie, die einen Weg aufzeigt, wie wir Rassismus bekämpfen. Wir müssen auch wegkommen von der Integrationsdebatte, hin zu einer Gleichstellungsdebatte. Gerade nach solchen Ereignissen sollten die Politiker noch einmal nachdenken, was sie falsch gemacht haben. Es gab Verschärfungen im Aufenthalts- und Staatsangehörigkeitsrecht. Wenn Menschen, die hier geboren sind, von Politikern noch als Gäste oder Ausländer bezeichnet werden, dann ist das natürlich eine Aussonderung. Und damit haben sie Menschen zu Fremden gemacht, obwohl diese keine Fremden sind.

Der künftige Bundespräsident hat gesagt, er möge keine Stadtviertel mit »allzu vielen Zugewanderten und allzu wenigen Altdeutschen«.
Was Sie zitieren, hat in der türkischen Bevölkerung zu Irritationen geführt. Der Bundespräsident in spe kann dies aus dem Weg räumen. Vielleicht wäre es sinnvoll, wenn er dazu Stellung beziehen würde und diese Unklarheiten beseitigt. Ich denke, er vertritt nicht die Thesen von Sarrazin, aber wenn er ihn als »mutig« bezeichnet, führt das schon zu Irritationen. Von einem Bundespräsidenten erwarte ich eine etwas differenziertere Haltung.

Es hat lange gedauert, bis Politiker eine gewisse Empathie für die Opfer der Zwickauer Terrorzelle entwickelt haben. Welche Gründe gibt es hierfür?
Das ist wohl wahr. Ich erinnere daran, dass schon Altbundeskanzler Kohl nach den Mordserien 1992/93 gesagt hat: »Ich mag keinen Beileidstourismus.« Seitdem ist die Empathie zwar gewachsen, aber nicht ausreichend. Das ist neu, dass sich heute alle Parteien gemeinsam gegen Rechts stellen. Gut, das Wort Rassismus nahmen sie nicht in den Mund, aber trotzdem ist es eine Entwicklung, die positiv ist.

Ist ein Gedenkort für die Opfer nicht nur eine Kranzabwurfstelle? Wird damit nicht der rassistische Alltag im Land aus den Augen verloren?
Das eine tun, das andere nicht lassen. Wir brauchen einen gesellschaftlichen Ächtungsprozess, der in den letzten Jahren sehr nachgelassen hat. Die Unterstützung von Sarrazin in der Bevölkerung war groß. Wir müssen den Rassismus auch so nennen. Die Bundesregierung vermeidet das Wort.

Stets ist von »extremistischer« Gewalt die Rede. Warum tun sich die Regierenden so schwer, rechte rassistische Gewalt auch als solche zu bezeichnen?
Das müssen Sie natürlich diese Personen fragen. Der Begriff Rassismus hat natürlich viel mit unserer Vergangenheit zu tun. Man arbeitet das auf, aber man will damit nichts mehr zu tun haben. Aber das Gedankengut ist weiterhin da.

Ministerin Kristina Schröder macht indessen Jagd auf vermeintliche Linksextremisten.
Während die Linkspartei beobachtet wird, sieht man ja, wie viele Personen in Kriminalämtern für Rechtsextremismus oder Rassismus da sind. Da muss die Bundesregierung umdenken. Wir haben immer noch nicht verstanden, dass wir ein Einwanderungsland, eine kulturell vielfältige Gesellschaft geworden sind. Die Neue Rechte à la Sarrazin hat immer wieder ein Übergewicht bekommen. Ich hoffe, dass der heutige Tag der Anfang einer neuen Strategie gegen Rassismus in Deutschland wird.

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