Suche nach besserer Verfassung

Syrien streitet um das neue Grundgesetz: ein Schritt zur Demokratie oder Machtsicherung Assads?

  • Karin Leukefeld, Damaskus
  • Lesedauer: 4 Min.
Mehr als 14 Millionen Syrer sind am Sonntag zur Abstimmung über eine neue Verfassung aufgerufen, die unter anderem das Machtmonopol der seit fünf Jahrzehnten regierenden Baath Partei beendet. Die Opposition will das Referendum boykottieren und kritisiert insbesondere, dass der Präsident auch künftig »uneingeschränkte Vorrechte« genieße.
»Wir haben nur eine Religion, die Liebe.«
»Wir haben nur eine Religion, die Liebe.«

»Natürlich werden wir zum Referendum gehen, die neue Verfassung ist ein guter Schritt für unser Land und die Menschen.« Es ist früher Nachmittag in Mezzeh, einem Stadtteil von Damaskus. Mahija Ibrahim (42) und Janvier Eid (56) sind auf dem Nachhauseweg von der Französischen Schule, wo sie arbeiten. Von den Auseinandersetzungen während eines Trauerzuges in Mezzeh, bei denen es vor einer Woche Tote gab, hätten sie gehört. Sie würden zwar kaum noch ausländische Fernsehsender einschalten, die alles übertreiben würden. Doch »die Leute reden darüber und wir alle erleben diese Krise«, sagt eine der Frauen. Früher sei das Leben »vollkommen sicher« gewesen, fügt die andere hinzu. Beide hoffen, dass »das Problem« bald gelöst werde. Vielleicht könne die neue Verfassung die Menschen zum Einlenken bewegen, hoffen sie und verabschieden sich rasch, um den Bus zu bekommen.

Wenige Schritte entfernt parkt eine junge Frau gerade ihr Auto und geht zielstrebig auf ein Haus zu. Gefragt, ob sie einer ausländischen Journalistin einige Fragen beantworten wolle, nickt die 35-jährige Noor Kurdi. »Fragen Sie nur. Ich bin froh, wenn ich über das reden kann, was ich erlebt habe. Die ganze Welt soll es erfahren.« Vor einem Monat sei sie mit ihrer Familie aus Homs nach Damaskus geflohen, weil »das Leben unerträglich geworden« war. Ihr Zuhause sei in Inschaat, einem der am heftigsten umkämpften Viertel in Homs, sie hätten kaum noch ihr Haus verlassen können. »Ich habe diese bewaffneten Männer gesehen, die maskiert und bewaffnet über die Straßen zogen. Sie haben Zettel verteilt und gedroht, den Kindern werde etwas passieren, wenn sie weiter zur Schule gingen. Anfangs geschah das nur jeden Freitag, dann jeden Tag.« Mit »unglaublich beleidigenden Worten« hätten sie den Präsidenten verflucht, die nahe gelegene Polizeiwache sei fast jede Nacht beschossen worden. »Selbst Freunde und Bekannte von uns, die am Anfang die Opposition unterstützt haben, wollen nichts mehr mit ihr zu tun haben.« In den Wirren der vergangenen Wochen habe sie die Diskussion über die neue Verfassung gar nicht verfolgt, sagt Noor Kurdi. Eben im Autoradio habe sie eine Diskussion gehört und werde mit ihrem Mann darüber sprechen. Die Verfassung sei vielleicht ein Schritt, um Syrien vor Gewalt und Bürgerkrieg zu schützen.

In einem kleinen Geschäft wenige Straßen weiter diskutieren drei Männer über die Proteste in Mezzeh. Die Sicherheitskräfte hätten wild um sich geschossen, keiner der Demonstranten habe »auch nur ein Messer« bei sich gehabt. Wenn das so weitergehe, werde er selber noch zur Waffe greifen, sagt der Älteste. Am Sonntag werde keiner von ihnen an dem Referendum über die Verfassung teilnehmen. Diese sei »dem Regime auf den Leib geschneidert«, niemals werde die Baath Partei zulassen, dass andere Leute politische Posten besetzen könnten. »Veränderung in Syrien ist unausweichlich und sei es mit Bürgerkrieg«, sagt der Älteste.

Dem Aufruf zu Protesten vor dem Parlament am Abend sind vor allem junge Männer und Frauen gefolgt. Veranstalter ist die »Volksfront für Veränderung und Befreiung«, die sich gegen den Artikel 3 des Verfassungsentwurfes wendet. Der legt fest, dass der syrische Präsident ein Muslim sein muss und das islamische Recht, die Scharia, eine Hauptquelle der Rechtsprechung sein soll. Der 20-jährige Muhammad Nasr hält ein anderes Plakat: »Wir haben nur eine Religion, die Liebe. Wir haben nur eine Identität, die Menschlichkeit. Wir haben nur einen Gott, die Schöpfung.« Er werde am Referendum teilnehmen, sagt der junge Mann. Syrien sei für alle Syrer da. »Wir müssen nach dem suchen, was uns verbindet, nicht danach, was uns trennt.«

157 Artikel für ein neues Syrien


Vier Monate lang hatte eine Kommission mit 30 Mitgliedern an dem Verfassungsentwurf gearbeitet. Das aus Unabhängigen, Vertretern der Baath Partei und Teilen der Opposition zusammengesetzte Gremium hat nach eigenen Angaben Verfassungen aus aller Welt geprüft, um den vorliegenden Text auszuarbeiten, der nun 157 Artikel umfasst. Umstritten ist u. a. Artikel 3, wonach der syrische Präsident ein Muslim sein muss und die Scharia eine »bedeutende Quelle« der syrischen Rechtsprechung ist. Kritisch debattiert wird auch Artikel 84, in dem festgelegt ist, dass ein Kandidat für das Präsidentenamt mindestens zehn Jahre ununterbrochen in Syrien gelebt haben muss. Die Meinungs- und Versammlungsfreiheit werden laut Verfassungsentwurf geschützt. Parteigründungen sind möglich, sofern sie nicht auf religiöser, ethnischer oder regionaler Basis beruhen. Syrien soll ein pluralistischer Rechtsstaat werden. Änderungen der Verfassung sind frühestens nach 18 Monaten möglich, Gesetze müssen innerhalb von drei Jahren an die Verfassung angepasst werden. nd

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