Ein wundervolles Debüt

TÉA OBREHT: »Die Tigerfrau« führt in idyllische, kriegsversehrte Landschaften

  • Michael Sollorz
  • Lesedauer: 4 Min.

Vor 20 Jahren ging eine Nachricht um die Welt: Nach den Adlern, Giraffen und Wölfen sei nun auch der letzte überlebende Insasse des Zoos von Sarajevo verendet, eine Braunbärin. Scharfschützen hätten die Versorgung der über hundert verschiedenen Tiere verhindert, zum Schluss habe sich die hungrige Bärin von den Kadavern ihrer drei Artgenossen ernährt. Die Meldung rührte das abgebrühte Publikum. Gerade das beschauliche Sarajevo, kroatisch, serbisch, muslimisch bewohnt, friedliches Beispiel für die Möglichkeiten von morgen, und ausgerechnet ein Zoo, zwangsläufig Heimstatt der unschuldigsten Kreatur.

In Téa Obrehts Roman fährt die Furie sinnloser Vernichtung gleich zweimal in die Artenvielfalt. Im Jugoslawien-Krieg der 1990er protestieren die kindliche Ich-Erzählerin und ihr Großvater in einer schütteren Mahnwache vor dem geschlossenen Belgrader Zoo gegen die Bombenangriffe, während drinnen, vom Lärm der Detonationen verrückt geworden, ein Tiger seine eigenen Pfoten zerbeißt.

Ein anderer Krieg, ein anderer Tiger: Er flieht 1941 beim Einmarsch der Deutschen aus seinem zerstörten Gehege, streunt wochenlang durch ein Land in Auflösung, halb zahm und angsterfüllt, frisst Leichen. Erst als er vordringt bis zum weltfernen Bergdorf Galina, findet er wieder so etwas wie Heimat, die Unterstützung eines taubstummen Mädchens, verheiratet mit dem Schlachter. Und ein kleiner Junge lebt dort, der sich vor der gestreiften Großkatze ebenfalls nicht fürchtet - jener spätere Großvater, der gerade gestorben sein wird, als der Roman beginnt.

Téa Obreht ist ein wundervolles Debüt geglückt. 1985 in Belgrad geboren, lebt sie seit ihrem zwölften Lebensjahr in den USA, wo »Die Tigerfrau« als Sensation gefeiert wird. Inzwischen liegen Übersetzungen in mehr als dreißig Sprachen vor. Unerschrocken begibt sich Obreht zurück zum Anfang allen Erzählens, lange vor der Schrift, als uns noch am offenen Feuer vor Staunen der Mund offen stand. Welche poetischen Funken sie aus ihrem getürmten Tiger schlägt! Eine Reihe unvergesslicher Figuren treten auf. Oft lässt man das Buch fassungslos sinken, so wissend steht manches da, und man schaut ungläubig auf das Foto der blutjungen Autorin. Hoffentlich übersteht ihr großes Talent diesen frühen Welterfolg.

Das kleine Mädchen von der Mahnwache ist erwachsen geworden. Im kruden Heutzutage fährt es als junge Ärztin in ein Waisenhaus, um »Kinder, die von unseren eigenen Soldaten zu Waisen gemacht worden waren, medizinisch zu versorgen«. Die Mission führt nach Brejevina, plötzlich auf der gegnerischen Seite gelegen. »Vor dem Krieg hatten die Leute von Brejevina zu uns gehört. Die Grenze war ein Witz gewesen, eine bloße Formalität. Man brachte den Zollbeamten belegte Brote oder eingemachte Paprika mit, und niemand fragte einen nach dem Namen ...« Heute kann die Endung deines Namens, der Akzent, den du sprichst, über dein Leben entscheiden.

Erzähl- und Zeitebenen wechseln, überschneiden und verflechten sich. Mythen sind eingewoben, Glauben und Aberglauben, wie alte, dunkle Mächte, die fortwirken. Können wir uns dagegen wehren? »Die Tigerfrau« handelt auch vom Verhängnis, vermeintlich Fremdes abzulehnen. Wischt man die Gespinste erst weg, tritt eine zivilisatorische Ohnmacht zutage, ein Scheitern, dessen Grund in grauer Vorzeit zu liegen scheint, unzugänglich für die Nachgeborenen. Sie richten sich wieder ein, immer auf der Hut. »Um ja nichts Politisches oder Religiöses zu berühren, redeten wir über die diesjährige Ernte.«

Was mag die Zukunft bringen? Natalia macht sich keine Illusionen. Solange ein Kampf ein Ziel hat - »Befreiung von etwas, das Engagement für Unschuldige«, bestehe Hoffnung auf ein Ende. »Wenn er jedoch nach Auflösung trachtet, … bleiben nichts als Hass und die lange, träge Prozession von Menschen, die Generation für Generation von ihm zehren«. Der Leser schämt sich, den Irrsinn damals und bis heute nicht verstanden zu haben und schämt sich gleich noch einmal für sein Gefühl der Erleichterung: dass es Obrehts Helden genauso geht.

Téa Obreht: Die Tigerfrau. Roman. A. d. Engl. v. Bettina Abarbanell. Rowohlt Berlin, 420 S., geb., 19,95 €.

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