Zwei Deutsche an einem Tisch

Peter Ensikat und Egon Bahr erinnern sich vereint

Was haben der Kabarettist und der Diplomat gemeinsam? Sie haben verkrustete, verkommene Zustände aufzubrechen, freundlicher und menschlicher zu gestalten versucht. Jeder auf seine Weise.

Peter Ensikat und Egon Bahr haben sich zwei Tage lang zehn Stunden unterhalten. Um Gedächtnislücken aufzufüllen. Herausgekommen ist ein lehrreicher wie unterhaltsamer Band, den sie auf diversen Podien der Leipziger Buchmesse vorstellten - zwei Deutsche an einem Tisch.

Der DDR-Bürger kannte den 1922 im thüringischen Treffurt geborenen Bundesbürger bereits als Stimme des RIAS und schätzte ihn hernach als Architekten der Neuen Ostpolitik, mit der sich große Hoffnungen vor allem östlich der Elbe verbanden. Der andere wiederum bewunderte den 1941 in Finsterwalde auf die Welt gekommenen »Distel«-Autor ob seiner Gratwanderung, systemkritische Texte zu verfassen, die vom Publikum verstanden wurden, aber den Aufpassern keine konkrete Handhabe zum Eingreifen boten. Ein »Katz-und-Maus-Spiel, das sogar Spaß machte«, nennt der Kabarettist das Austricksen der Zensur, das nicht ohne Risiko war - was er beizeiten erfuhr, als die Staatsmacht rigide gegen das Leipziger Studentenkabarett »Rat der Spötter« vorging. Begegnet sind sich Bahr und Ensikat erst Jahre nach der Vereinigung, auf einer Geburtstagsfeier von Peter Bender, jenem Mann, der die Brandt-Bahrsche Entspannungspolitik mit kluger und brillanter Feder begleitete. »Ich bin vor Hochachtung fast in den Erdboden versunken«, bekennt Ensikat: »So tief konnte Egon Bahr nicht hinabschauen.«

Neugier auf das Leben des Anderen im geteilten Land hat die beiden zum Gespräch zusammengeführt. Wie lebte es sich hüben, wie drüben?

Ensikat hatte Journalist werden wollen, was ihm die Mutter mit dem SED-Regionalblatt »Lausitzer Rundschau« austrieb: »Willst du so was schreiben?« Bahr begann als Journalist, lernte das Handwerk im von der US-amerikanischen Besatzungsmacht lizensierten »Tagesspiegel«. Der freundliche Hinweis eines Mentors: »Wer, was, wie, warum muss bereits im ersten Satz eines Artikels stehen.« Und: »Sie brauchen ›Krieg und Frieden‹ nicht neu zu schreiben.«

Das tat er dann auch nicht. Aber er wollte für die Bewahrung des unter großen Opfern in einem fürchterlichen Krieg errungenen Friedens tätig sein. Das schloss nicht aus, dass er zunächst ein Kalter Krieger war, auch noch, als ihn (West)Berlins Regierender Bürgermeister Willy Brandt im Januar 1960 bat, Leiter seines Presseamtes zu werden. Die Wende im Denken verdankte sich dem Bau der Mauer im Jahr darauf. Der Status quo ward zementiert. Und Bahr deklarierte »Wandel durch Annäherung«, was sanfte Erpressung menschenrechtlicher Zugeständnisse einschloss, wie sie u. a. im Korb 3 der KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975 fixiert wurden.

»Wir wurden endlich nicht mehr als Bewohner eines Zoos betrachtet, sondern ernst genommen«, sagt Ensikat. »Jetzt wurde etwas getan, damit wir wirklich zusammenkamen.« Bahr bekräftigt, dass schon das Echo in der ostdeutschen Bevölkerung auf das erste Passierscheinabkommen »für mich und mein eigenes Tun ein ganz wichtiger Antrieb war, nicht nur weiterzumachen, sondern Anschuldigungen, man sei ein ›Vaterlandsverräter‹, abprallen zu lassen«. Im Buch würdigt er den Freund und Genossen: »Der Grundlagenvertrag wäre nicht zustande gekommen, wäre Brandt nicht so entschlossen und mutig gewesen.«

Nach wie vor beschäftigt Bahr die Guillaume-Affäre von 1974: einerseits die Frechheit des BND, den Kanzler als Lockvogel für die Enttarnung eines Spions zu missbrauchen, andererseits bohrt in ihm die Frage: Wusste Erich Honecker vom Topspion des HVA-Chefs Markus Wolf in Bonn? Mit einer Antwort kann Ensikat hier nicht aufwarten; intimer Einblick in Staatsgeheimnisse war ihm nicht vergönnt. Ansonsten bleibt er Bahr keine Antworten schuldig.

Die beiden Herren ergänzen sich trefflich. Mitunter macht der eine den anderen zart auf einen Irrtum aufmerksam. Wenn etwa Bahr rückblickend jubelt: »Wir haben in Westdeutschland über Quelle und Neckermann erstklassige Produkte aus der DDR bezogen«, verweist Ensikat darauf, dass die DDR-Bürger aufregte, »dass alles, was hier an guten Sachen hergestellt wurde, in den Export ging«. Beide konstatieren für DDR- und BRD-Bürger, »über unsere Verhältnisse gelebt« zu haben. Bahr hört aufmerksam zu, als Ensikat ihm über die wirtschaftlichen Probleme der DDR, insbesondere die zu niedrige Arbeitsproduktivität schildert, um sodann ehrlichen Herzens zu bekunden: »Aber was die DDR unter diesen Umständen trotzdem geleistet hat, ist bewundernswert.«

Der Politiker lobt die »Verantwortungsgemeinschaft« beider deutschen Staaten für die europäische Sicherheit. Und der Kabarettist findet es noch heute »ausgesprochen mutig von Honecker, dass er diese Raketen - egal, ob die SS 20 des Warschauer Paktes oder die westlichen Mittelstreckenraketen ›Teufelszeug‹ nannte«. Gegen Ende des Buches gibt Ensikat seine Verwunderung über den Umgang mit Honecker nach Wende und Vereinigung kund, der »nun plötzlich zum Alleinschuldigen gemacht werden sollte ... Ich hatte oft das Gefühl, dass ihm die DDR-Leute ganz besonders übelgenommen haben, dass sie ihm so lange zugejubelt hatten. Hier wurde ein Schuldiger gefunden. der uns alle freisprechen sollte.«

Überraschend war für Ensikat wie Bahr der Ausgang der letzten Volkskammerwahlen am 18. März 1990; an jenem Tag weilten beide - ein Aha-Erlebnis des Gesprächs - zufälligerweise im Ostberliner Palast der Republik: Ensikat als Kommentator, dem es die Sprache verschlug, Bahr als Beobachter. Ensikat begründet: »Ich meinte, dass das, was Willy Brandt für den Osten getan hatte, der SPD auch 1990 noch angerechnet würde.« Bahr erwidert: »Ich war auch erschüttert. Mit einem so tiefen Niedergang hatte ich ich nicht gerechnet.« Die überstürzte Vereinigung, falsche Versprechungen und wissentliche Fehlentscheidungen kritisieren sie unisono. Der Sozialdemokrat bemerkt, niemals in solch bequemer Lage gewesen zu sein wie der Christdemokrat Wolfgang Schäuble, der den Einigungsvertrag »in Anwesenheit von Staatssekretär Krause mit sich selbst verhandelte. Mir ist es nie so gut gegangen, dass ich mit mir selbst verhandeln konnte.«

Doch man lese selbst, wie die beiden im munteren Plauderton, mit Esprit und Witz, nachdenklich und immer wieder nachfragend das 20. Jahrhundert durchstreifen und ins 21. hineinlugen. Es lohnt sich. Gewünscht hätte man dem Buch ein etwas gründlicheres Lektorat. Schmunzelt man noch über den »Kurzgefassten Lehrgang« der Geschichte der KPdSU, der »Kurzer Lehrgang« (Kratkij Otscherk) hieß, so ist die Behauptung, Erich Mielke sei Mitte der 90er Jahre von einem bundesdeutschen Gericht wegen zweier Polizistenmorde im Jahr 1929 angeklagt worden, peinlicher. Die tödlichen Schüsse auf Paul Anlauf und Franz Lenk fielen 1931 auf dem Berliner Bülowplatz. 1929 war der sogenannte Blutmai; und der damalige Polizeipräsident von Berlin, Karl Friedrich Zörgiebel, der auf demonstrierende Arbeiter schießen ließ, war ein Sozialdemokrat.

Egon Bahr/Peter Ensikat: Gedächtnislücken. Zwei Deutsche erinnern sich. Aufbau-Verlag, Berlin 2012. 204 S., geb., 16,99 €.

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