Die Zeit stürzt in die Tiefe

Im Kino: »Anton Corbijn Inside Out« von Klaartje Quirijns

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 5 Min.
Corbijns Arbeit »Kurt's Back« – eine Rückansicht des Grunge- Musikers und Nirvana-Frontmanns Kurt Cobain (1967–1994) – entnehmen wir mit
freundlicher Genehmigung dem Bildband »Anton Corbijn. Star Trak« (Schirmer/Mosel, 144 S., geb., 49,80 €).
Corbijns Arbeit »Kurt's Back« – eine Rückansicht des Grunge- Musikers und Nirvana-Frontmanns Kurt Cobain (1967–1994) – entnehmen wir mit freundlicher Genehmigung dem Bildband »Anton Corbijn. Star Trak« (Schirmer/Mosel, 144 S., geb., 49,80 €).

Anton Corbijn hat Fotos gemacht, die niemandem mehr aus dem Kopf gehen, der sie einmal gesehen hat. Das Bild von »John Lee Hooker's Hand« aus dem Jahr 1994 ist so eine Aufnahme. Vor einer hellen, grob verputzten Wand ist die rechte Hand des Blues-Veteranen in Stellung gebracht, als wollte sie im Schattentheater den Kojoten geben; formiert zu zwei spitz voneinander abgespreizten Paaren jeweils eng aneinandergeschmiegter Finger plus angewinkeltem Daumen. Die Gitarre, die in diese Hand gehört, ist nicht zu sehen. Aber deutlich erkennt man die Spuren, die ihre Stahlsaiten über die Jahre auf den Kuppen hinterlassen haben. Als habe die Hornhaut von dort oben kreuz und quer ein Netz hinunter zur Handwurzel gesponnen, die in einen glatt hängenden schwarzen Ärmel mündet, ziehen sich tiefe Furchen über jenes Körperteil, auf dessen Fertigkeiten John Lee Hookers Ruhm gründet. Am Ringfinger glänzt silbern ein Ring. Die Haut des alten Mannes aber schimmert in Licht und Schatten wie ein Faltengebirge aus geknittertem Pergament.

Wenn man sagt, Anton Corbijn habe sie fast alle vor der Linse gehabt, die bedeutenden Popstars der letzten vier Jahrzehnte, hört sich das an, als sei er ein Paparazzo. Er ist das Gegenteil davon. Seine Arbeiten sind keine Schnappschüsse, sondern sorgsame Inszenierungen. Es ist auch nicht so, dass er seinen menschlichen Motiven nachjagt, um sie in möglichst intimen Momenten einzufangen. Nein, die Stars halten ihm alle Türen offen. Und sie kommen bereitwillig an jene Orte, die dieser niederländische Meister auf seinen Recherche-Streifzügen für Aufnahmen als richtig identifiziert hat. Es ist, als seien andere blind für die spezifische Magie dieser Orte. Aber die Stars scheinen genau zu wissen, dass »Anton«, wie sie ihn freundschaftlich nennen, auch im Aufspüren der richtigen Kulissen über eine Wahrnehmungsgabe verfügt, die den Geist ihrer eigenen Kunst wie ein Echo zu reproduzieren versteht. In Corbijns Fotos fühlen sie sich erkannt. Sie vertrauen sich ihm an.

In Klaartje Quirijns' Filmporträt »Anton Corbijn Inside Out«, das den Künstler in einfühlsamen Bildern vorstellt, ist zu erleben, wie die Showgrößen U2, Depeche Mode, Herbert Grönemeyer, Metallica und Lou Reed, die allesamt nicht dafür bekannt sind, sich vor anderen klein zu machen, vor dem zurückhaltenden Fotografen und seinem Werk in die Knie gehen. Den »Kultstatus«, sagt etwa Martin Gore, verdanke Depeche Mode ganz erheblich Corbijns Bildern und Videos. In der fiktiven Welt des Fotografen, die irgendwo in dessen Psyche liegen müsse, bekennt Drummer Lars Ulrich von Metallica, fühle er sich ungeheuer heimisch. Das größte Kompliment aber stammt von Bono, dem Frontmann der irischen Band U2: Seit er Corbijns erste Aufnahme von sich gesehen habe, versuche er, der Mensch zu werden, der auf dem Bild zu sehen ist.

In Quirijns' Film lernen wir Anton Corbijn, einen großen, schlaksigen Mann mit grauem Siebentagebart und vernachlässigter Schlafzimmer-Frisur, als aufgeschlossenen Eigenbrötler kennen, der den »schöpferischen Schmerz« und die »Vergegenwärtigung des Todes« als inhaltliche Herzstücke seiner Bilder nennt. Dem melancholischen Teil seines Temperaments nach könnte man sich den Pfarrerssohn aus der holländischen Provinz auch im fortgeschrittenen Alter noch an jener Brücke vorstellen, unter die er sich als Kind zurückzog, um Kaulquappen zu fangen. Er habe immer in seiner eigenen Welt gelebt, »wie in einem Kokon«, erzählt seine Schwester. Die Liebe zur Musik ließ der verpuppten Existenz Flügel wachsen, wehte sie hinaus in die Weite der Welt.

»Die Musik bringt Menschen zusammen«, sagt Corbijn im Film und wirkt dabei, als sei solche Gemeinschaft etwas höchst Erstrebenswertes und zugleich Bedrohliches. In der Fotografie habe er einen Weg gefunden, der ihn in die Welt führt, »um ein Stück dieser Welt mit nach Hause zu nehmen« - im Foto eingefangen wie eine Kaulquappe im Einweckglas.

Kunst sei die Suche des Künstlers nach sich selbst. Der Dialektik dieses romantischen Bildes liegt darin, dass der Künstler sich während seiner Suche aber fortwährend gerade in anderen Menschen findet. In dieser Verschmelzung werden Corbijns Werke geboren; Kinder einer platonischen Liebe. Unerfüllt, vielleicht unerfüllbar, bleibt indessen die Sehnsucht nach einer tiefgreifenden menschlichen Beziehung. Ohne die Einsamkeit, ohne das Unglücklichsein wäre eine Ästhetik wie die von Corbijns Fotos schwer denkbar. Er habe gelernt, im Unglück behaglich zu leben. Ein Einzelgänger, ja, das sei er wohl. »Aber ich will nicht so sein.«

So rücksichtslos gegen sich selbst, dass seine Geschwister den jähen Zusammenbruch fürchten, geht Anton Corbijn rund um den Globus seiner Arbeit, seiner Leidenschaft nach, zu der seit einigen Jahren auch das Filmemachen gehört (»Control«, »The American«). Eine eigene Serie geben die Aufnahmen her, die er aus Hotelfenstern von den Dachgiebeln verschiedenster Städte gemacht hat.

Dem in penibler Ordnung gepackten Koffer entnimmt man ein weiteres Geheimnis der Corbijn'schen Kunst: Akkuratesse. Am Filmset bittet er George Clooney einmal, seinen Standort doch noch »ein paar Millimeter« zu verlagern. Als ein eifriger Helfer die richtige Stelle markieren will, murmelt der Regisseur verärgert, aber nur zu sich selbst: Das sieht man doch.

Die außergewöhnlich exakte, punktgenaue Wahrnehmung seiner Umwelt prägt Corbijns Kunst. In Quirijns' Film erfahren wir: Sie prägt - und belastet - aber auch sein Leben. Auf Partys und Empfänge gehe er nach wie vor sehr ungern. Und warum? Weil er fürchte, einem Gespräch nicht folgen zu können. Allzu oft schon habe er den Faden einer Erzählung verloren, weil er an einem einzelnen Wort darin hängengeblieben sei, dem er dann nachhorchen und -denken müsse. Durch diese beiläufige Bemerkung schimmert das ganze Wesen der Fotografie: einen Moment aus der Bewegung zu reißen, in dem die fortlaufende Zeit ihre Oberflächenspannung aufgibt und in die Tiefe stürzt.

Selbst wo er mit bewegten Bildern arbeitet, im Film, ist das nicht anders. Die Versuchung, ständig die Pause-Taste der DVD-Fernbedienung zu drücken, während man »Control« ansieht, ist groß - viele Einstellungen gleichen Fotos. Der Spielfilm handelt von Ian Curtis, der mit seiner Band Joy Division aus der Einsamkeit in den Exzess flüchtete, ehe er sich 23-jährig das Leben nahm. Corbijn hatte die Band damals, Ende der Siebziger, fotografisch begleitet.

»Fotografisch« - es fühlt sich falsch an, das so zu buchstabieren, wenn man nicht das Husch-Husch der Digitalknipserei meint, sondern Corbijns Kompositionen. »Photographien« - das kommt der Sache näher. Man schreibt doch auch nicht »Filosofie«.

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