Wo der Osten schwindet

Polen hat sich rasant entwickelt und will sich modern zeigen

  • Olaf Sundermeyer
  • Lesedauer: 3 Min.
Früher war Polen weit weg. Hinter Frankfurt (Oder) war alles »bäh!« und löste diffus bedrohliche Vorstellungen aus. Polen! Pooolen? War das Land, in das sich die Autoschieber mit ihren Nutten über die Autobahn flüchteten. Um auf der Rückreise Zigaretten zu schmuggeln. Das war Polen, Polenbanden, Klaupolen, Polenwitze wie dieser: Wie geht ein polnischer Triathlon? Zu Fuß zum Schwimmbad - und mit dem Fahrrad zurück!

Und dann sind noch vage Erinnerungen an Europapokalspiele bei Dyskobolia Grodzisk Wielkopolski oder Widzew Łódz, Kloppereien bei Auswärtsspielen der deutschen Nationalmannschaft im ramponierten Stadion von Zabsch…, Zabrze, wenn auch mit gehöriger Beteiligung deutscher Problemfans, für die Polen ein Abenteuerspielplatz war. Ansonsten gab es dort nur Ärger und Strapazen. Sowieso musste immer der Koch vorgeschickt werden, mit vakuumverpackten Lebensmitteln.

Aber auf einmal kam uns Polen näher, vor allem durch die Erweiterung der Europäischen Union. Mit sich selbst reinigenden Toiletten am Fahrbahnrand der neuen Autobahnen, die auch die Spielorte Poznan und Wroclaw inzwischen übergangslos und schnell mit Berlin und Dresden verbinden.

Überwog vor dem EU-Beitritt 2004 noch die polnische Skepsis gegenüber Europa, hat sich diese Einstellung in eine weit verbreitete Europa-Euphorie gewandelt, die von einer wachsenden Mittelschicht getragen wird. Und die EM 2012 verstärkt die Europäisierung und Demokratisierung einer dynamischen Gesellschaft. Nur der Fußball galt noch als letzte Bastion der ehemaligen sozialistischen Volksrepublik, durchdrungen von alten Seilschaften, Korruption, Vetternwirtschaft, Alkoholismus, Dilettantismus und Fangewalt. Doch auch das soll sich nun ändern.

Die EM 2012 wird als Neuanfang des skandalerschütterten polnischen Fußballs verstanden. Unter Hochdruck klärt die Staatsanwaltschaft Wroclaws den bislang größten Korruptionsskandal im europäischen Fußball auf. Jahrelang wurde jedes dritte Spiel in den Profiligen manipuliert, also verkauft. Über 200 Personen, Spieler, Trainer, Funktionäre aus 52 Klubs wurden bereits verurteilt. Einzig der polnische Fußballverband PZPN scheint noch nicht in Europa angekommen zu sein. Er ist noch tief in einer Korruptionsaffäre verstrickt, die auf Aufklärung wartet.

Aber auch bei der Fangewalt haben die Verantwortlichen dazu gelernt, Klubs, Regierung und Justiz. Nach deutschem Vorbild wurden erste Fanprojekte eingerichtet, mit Partnerschaften etwa zu Babelsberg 03 und Dynamo Dresden, deren Erfahrungen im Umgang mit gewalttätigen Fans sich die polnische Ekstraklasa inzwischen zu Nutze macht. Mit zählbarem Erfolg. So hat die Liga bereits in der abgelaufenen Saison eine gute Entwicklung genommen: Der bislang vierstellige Zuschauerschnitt ist auf über 10 000 gewachsen, vor allem in die neuen EM-Stadien kommen viele Besucher, nach Wroclaw, Gdansk und Poznan. Allmählich kehrt das Vertrauen in den Fußball zurück; im gleichen Maße wie die Angst vor Gewalt und Spielmanipulationen schwindet.

Aber den meisten Polen geht es in diesem Sommer um mehr als bloß um Fußball: Sie wollen sich endlich vor der Welt als modernes Land präsentieren, zu dem sich Polen rasant entwickelt hat. Das Turnier kommt für sie zu einem idealen Zeitpunkt. Auch angesichts der zuletzt heftig geführten Diskussion über die gesellschaftlichen Zustände in der Ukraine profitiert Polen: in Abgrenzung zu der dort herrschenden menschenverachtenden Oligarchie. »Wir haben wohl unterschätzt, dass die Ukraine kein Mitglied der Europäischen Union ist«, sagte Michel Platini, der Präsident des europäischen Fußballverbandes UEFA, vor einiger Zeit bei einem Besuch in Warschau. Damit ist eigentlich alles gesagt.

Polen


Größe: 312 683 Quadratkilometer

Hauptstadt:
Warschau mit 1,7 Mio. Einwohnern

Bevölkerung: 38,2 Mio. (2010)

Bruttoinlandsprodukt 2010: 354 Milliarden Euro

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