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  • 10. nd-Lesergeschichten-Wettbewerb

Der Weißdorn auf Humphrey Head

Anke Green aus Grange-over-Sands (Großbritannien)

  • Lesedauer: 4 Min.
Ein Beitrag in »nd« regte die 54-jährige an, die traurige Geschichte ihrer Kindheit aufzuschreiben.
Ein Beitrag in »nd« regte die 54-jährige an, die traurige Geschichte ihrer Kindheit aufzuschreiben.

In den 70er Jahren fuhr ich los, im Sommer um vier Uhr morgens. Runter nach Torremolinos in Andalusien, und bloß einer einzigen Freundin gab ich Bescheid. Mein blauer Käfer, kurz davor gekauft für 300 Mark, schaffte problemlos die ganze Strecke. Kaum angekommen war er futsch, und dann gab’s nicht mal mehr Schrottgeld. Damals war ich 19. Kein Platz für mich in Deutschland, so wie ich war, doch in der Sekte hieß man mich willkommen!

Gleich am Anfang sagte mir einer in Spanien »Los Alemanes son cerdos« (Die Deutschen sind Schweine). Es machte mich kurz stutzig, aber ich tat, als hätte ich es nicht gehört. Oder verstanden. Sechs Jahre blieb ich, ohne auch nur einmal kurz nach Deutschland »heimzukehren«. Und Jesus war auch nicht wieder gekommen. Dann ging’s mit Kleinkind an der Hand und dickem Bauch nach England.

Lieber Gott, bitte lass meine Kinder nicht so werden wie ich es bin. Jetzt wo man doch erwachsen ist und dankbar sein sollte, dass einer sich erbarmt hat, bloß nicht mehr heulen oder irgendwie auffallen, oder gar schreien, egal was passiert. Frau spricht jetzt eine andere Sprache, hat einen anderen Namen, ist immer etwas mysteriös.

Und wenn andere von zu Hause erzählen, und wie das so war, dann tut sie einfach, als sei sie grade ganz woanders oder wechselt das Thema. Sehnsucht nach endlich Ruhe, aber dauernd ist irgendwas. Beerdigungen. Umzüge. Wieder verreisen. Rosa Muscheln an allen Stränden und überall die Mädchen, die geliebt sind und ein Zuhause haben. Schnell die nächste Zigarette in den Mund gestopft. Und alle Jahre wieder der Gedanke, das kann doch wohl nicht wahr gewesen sein. Und Wut. Warum, verdammt noch mal, weiß irgendjemand es immer besser, was man fühlen soll und tun und lassen soll, und wer man ist?

Irgendwann mal, wenn man Glück hat, fängt der Panzer an zu knacken. Jetzt bin ich hier, in einem kleinen Ort bei Morecambe Bay. Drei Meilen weiter steht ein Felssporn - Humphrey Head. Er ragt wie ein riesiger Wal in die Bucht von Morecambe hinein. Auf diesem Felsen haben die Dorfbewohner von Cark im 14. Jahrhundert den letzten Wolf in England getötet. Auf Humphrey Head nisten Wanderfalken und Raben. Hier wachsen Weißdornbäume, über Jahrzehnte vom Westwind gepeitscht, schräg in die Landschaft. Hier grasen Schafe und Kühe.

Was man nicht alles hört, auf YouTube, 40 Jahre später, wenn man auf einmal wieder Zeit hat. Da singt doch jetzt tatsächlich einer: Weine. Weine, singt er, in Deutschland, so viel und so lange du willst! Und was man alles liest, im Internet, in den letzten paar Jahren, auch wenn man jetzt weit weg von Deutschland in einem Zipfel von Nordengland lebt. Entschuldigungen wohin man schaut. Bekundungen und Beteuerungen. Ihr wart damals nicht schuld, heißt es. Es soll sogar Entschädigungen geben.

Letztes Jahr flog ich noch einmal hin. Zurück ins Heim. Ins Josefsheim. Ha! - war das jetzt vielleicht die »Heimkehr«? Gekehrt wurde hier nämlich viel, geputzt, gewienert. Deckchen gestickt, gewaschen und gebügelt. Die Wäsche für das ganze Bistum, damals. Mit 14 Jahren. Schule? Gymnasium auch noch? Ja, was denkst denn du? Wir brauchen hier keine Schlauberger oder Gelehrten! Du musst erst mal lernen dich zu fügen, »Frollein«. Die ganze Woche eingesperrt. Aber wenigstens am Sonntagnachmittag durfte man raus. Gruppenspaziergang mit den Nonnen, es sei denn, du warst wieder frech gewesen.

Heute ist alles anders. Die Wäscherei ist weg. Auch die Kapelle gibt’s nicht mehr. Mir wird gesagt, das hätte damals alles nie passieren dürfen.

Zurück nach England wieder, mit einem jämmerlichen braunen Umschlag. Da drin die Briefe, die ich damals schrieb, und ich glaubte doch tatsächlich, die wurden abgeschickt. Gutachten. Berichte. Verwahrlost. Fürsorgeerziehung. Und dann noch etwas, das mich lächeln lässt: Zwei 40 Jahre alte Eintrittskarten für »Jethro Tull«, aus der Woche, in der wir abgehauen sind.

Auf Humphrey Head legte ich mich und meine Seele wie ein krankes Kind unter den windgepeitschten Weißdornbaum. »Lass es mich endlich sagen, und herausschreien«, sagte ich mir, hier auf dem Walrückenfelsen, der kann es tragen. Hier brüllte und blökte ich mit den Schafen und Lämmern, und keine einzige Kuh schaute auf und sagte: »Jetzt reiß dich aber zusammen!« Oder: »Jetzt muss doch mal gut sein!« Auf Humphrey Head, hier bei den schrägen Weißdornbäumen und den Wanderfalken kam der Weg mir freundlich entgegen. Und manchmal, wenn ich »Rabe!« rufe (nicht »Raven!« sondern »Rabe! Ra-Ra-Rabe!«), dann kommt sogar ein Rabe und gibt mächtig an vor mir, wie ein Flamenco-Tänzer.

Damals, als ich weg bin, war alles falsch - aber hier auf Humphrey Head ist alles richtig. Selbst die Weißdornbäume, die niemand mehr geradebiegen kann, tragen jetzt Knospen, und bald ist Mai.

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