Wenn der Tacho 50 zeigt

14 000 Jedermänner radeln durch Berlin / Velothon vom ersten Todesfall überschattet

  • Oliver Händler
  • Lesedauer: 5 Min.
Beim 5. Velothon beherrschten die Radfahrer erneut Berlin. Stürze bleiben nicht aus, erstmals stirbt ein Fahrer, doch die meisten haben es wieder genossen.
Tat er bestimmt.
Tat er bestimmt.

Das Surren wird lauter, ebenso der Streckensprecher. Man hört die Radsportler, bevor man sie sieht. Und dann biegen sie ein auf die Zielgeraden - die Jedermänner, die wie Profis wirken. 120 Kilometer haben sie in den Beinen und doch noch Kraft für beeindruckende Sprints. 2:38 Stunden sind vergangen, da retten die beiden Ausreißer Christian Sonnabend und Daniel Knyss einen hauchdünnen Vorsprung ins Ziel. Nach ihnen folgen Tausende weitere Radfahrer. Fast alle glücklich, alle verschwitzt, alle ausgepumpt.

Wer an diesem Sonntag in Berlin spannenden Radsport erleben will, muss nicht auf die Ankunft der Profis am Abend warten. Schon am Vormittag wird auf der Straße des 17. Juni gesprintet. 9.15 Uhr in der Frühe kommen die Schnellsten der 60-Kilometer-Strecke ins Ziel, drei Stunden später die ersten Athleten der doppelt so langen Distanz.

»neues deutschland« ist mittendrin. Anke Speth erreicht unter allen Fahrerinnen der 60 Kilometer Platz neun, Frederik Nießen und Reinhard Runge in ihren Altersklassen sogar dritte Plätze! »Das war mein erstes Radrennen überhaupt«, sagt Nießen. »Das hat Spaß gemacht. Und dass ich so schnell war, hatte ich gar nicht geplant. Hat sich so ergeben.« Der 17-Jährige hat eine Kamera an den Lenker montiert. Während des Rennens kaum Zeit für einen Blick auf Berlins viele Sehenswürdigkeiten, kann er sich diese daheim aus einer sehr speziellen Perspektive noch mal anschauen. »Ist doch eine nette Erinnerung.«

Trotz perfekten Wetters kommt es abermals zu einigen Stürzen, doch 45 Prozent weniger als im Vorjahr, lässt der Veranstalter Upsolut verlauten, der sein Konzept »Safer Cycling« mit 50 Guides in den Feldern als gelungen ansieht. Trotzdem herrscht keine Freude, denn erstmals stirbt ein 82-jähriger Fahrer. Schon nach zehn Kilometern erlitt er offenbar eine Herzattacke und kann nicht reanimiert werden, obwohl er sehr schnell ins nur 100 Meter entfernte Krankenhaus am Spandauer Damm eingeliefert wird.

Auch zum ersten Mal wird eine ganze Gruppe von Streckenposten fehlgeleitet, und auch Peter Bohl vom nd-Team ist betroffen. »Wir fuhren geradeaus auf der Potsdamer Straße. Da sind wir bestimmt vier Kilometer extra gefahren und durften uns hinten wieder einreihen«, so Bohl. Spätestens, als er die Platzierung seines Kumpels Nießen erfährt, hat Bohl wieder ein Lachen im Gesicht.

Dieses vereint alle 60 Fahrer des nd-Teams. Allesamt kommen sie stolz durchs Ziel, es wieder einmal geschafft zu haben. Wieder ist der innere Schweinehund überwunden, wieder war das Glücksgefühl da, als im Windschatten eines großen Fahrerfeldes der Tacho auf einmal 40 oder gar 50 Stundenkilometer anzeigt. »Ich kam mit einem Riesenpulk ins Ziel. Das war einfach geil. Das hat sich gelohnt«, zeigt sich Timo Lause begeistert. »Es war auch irgendwie entspannter als im letzten Jahr, ohne die große Hektik.«

Wie unterschiedlich die Wahrnehmungen doch sein können. Die einen sehen gar keine Stürze und unterhalten sich stundenlang mit den Nebenleuten, die anderen kritisieren rücksichtslose Fahrweisen ihrer Mitfahrer. Da ist es besser, ein wenig Abstand zu halten, wie es Bernd Theiler tat. »Ins Ziel bin ich nicht gesprintet. Ich war zwar in einer großen Gruppe, doch eh die mich an den Rand drängen, habe ich sie lieber fahren lassen.« Gunther Teichler macht es ähnlich. »Erik Zabel hat vorher gesagt: Wir sollten das Rennen genießen. Also habe ich in diesem Jahr sogar mehr von der Umgebung gesehen. Und trotzdem war ich schneller als letztes Jahr.«

Ich war noch nie so schnell - Stimmen aus dem nd-Team

Tolles Rennen. Die Familie ist angesteckt. Ich fuhr mit meinem Bruder im nd-Team, und meine Enkelin wurde Dritte beim Kids-Velothon. Andreas du Hamel

Ein großartiges Rennen und ein faires Fahrerfeld. Matthias Brust

Ganz vorn fahren viele Idioten ohne Rücksicht. Ich habe vier Stürze gesehen, zwei üble. Im Vorjahr bin ich gemütlicher gefahren. Diesmal wollte ich sehen, wie schnell ich sein kann. Fast 43 km/h im Schnitt ist doch nicht schlecht, aber nächstes Jahr fahre ich wieder gemütlich 40! Felix Hollburg

Der Anstieg an der Havelchaussee war nicht so der Brüller, aber ab der Oberbaumbrücke wurde es schön. Da wusste ich, das Ziel ist nicht mehr weit. Katrin Hey

Ich bin fast einen 40er-Schnitt gefahren. Das kann ich eigentlich gar nicht. Aber im ersten Block geht's nicht anders. Ich musste dann fast 20 Kilometer allein im Wind fahren, und trotzdem war ich fünf Minuten schneller als im letzten Jahr. Anke Speth

Ich bin noch nie so schnell Rad gefahren. Mein Schnitt lag über 30, Maximalgeschwindigkeit 53 km/h. Beim Rennen in Hamburg ist es immer so windig. Das schaffe ich da nie. Horst Matthies

Berlin ist besonders. Hier weiß ich immer, wo ich gerade bin. Leider kommen morgens um acht Uhr noch nicht so viele Zuschauer. Es fällt auch auf, dass die Straßen im Regierungsviertel am besten waren. Stefan Jaster

Zehn Kilometer vor dem Ziel platzte mir der Reifen. Ein anderer Fahrer warf mir einen Schlauch zu. Leider bekam ich kaum Luft drauf, so dass ich ins Ziel wie auf rohen Eiern fuhr. Martin Schultze

Am meisten beeindruckten mich die vielen Zuschauer auf den Dörfern in Brandenburg. Ein Junge hatte sogar ein komplettes Schlagzeug aufgebaut, und darauf getrommelt. Cornelia Borrmann

Ich war zum fünften Mal dabei und werde immer schneller. Nächstes Jahr wieder! Rainer Witzel

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