Die Nebenfigur

Heute fällt das Urteil im seltsamen Prozess gegen die frühere Terroristin Verena Becker

  • Velten Schäfer
  • Lesedauer: 3 Min.
Was auch immer die Richter heute verkünden: Die Geschichte von Siegfried Buback und Verena Becker bleibt im Vagen. Wer die Wahrheit über die Jahre des Terrors wissen will, kommt um den unbequemen Gedanken einer Generalamnestie nicht herum.

Zu dem Verfahren, in dem heute ein Urteil fällt, hat Verena Beckers Verteidiger Walter Venedey in einem Interview gesagt, es handle sich nicht um eine Wahrheitskommission. Doch diesen Eindruck hat der Prozess um den Mord an Generalbundesanwalt Siegfried Buback im April 1977 immer wieder aufkommen lassen. Es gibt eine Wahrheit A, B und C, deren »Management« dem Gericht obliegt.

Nebenkläger Michael Buback, Sohn des Opfers, ist der Meinung, dass Becker an dem Attentat unmittelbar beteiligt war und womöglich selbst geschossen hat. Die Nebenklage fordert daher lebenslänglich. In Wahrheit B, der Version der Staatsanwälte, hat sich Becker der »Beihilfe« schuldig gemacht - von Vorwürfen einer Tatbeteiligung rückte man während des Verfahrens ab und forderte am Ende viereinhalb Jahre Haft. Zwei davon würden als bereits abgesessen betrachtet werden. Und in Wahrheit C, Verena Beckers Version, trifft weder das eine noch das andere zu, die Angeklagte plädiert auf Freispruch.

Was dem Verfahren seine besondere Note gab, war der Konflikt zwischen Nebenklage und Staatsanwaltschaft, der die Angeklagte mitunter zu einer Nebenfigur machte. Spätestens das Plädoyer der Nebenklage, das Buback im Mai selbst gehalten hat, machte deutlich, dass das Verfahren aus seiner Sicht auch so gemeint war: Die Ausführungen richteten sich mehr gegen die Staatsanwaltschaft und deren »Ermittlungspannen« als gegen Becker selbst - gipfelnd in der Behauptung, dass der Mord bislang nicht habe aufgeklärt werden können, weil ein Geheimdienst seine »schützende Hand« über sie gehalten habe. Die Frage, die Buback im Raum stehen ließ, war letztlich die: Wäre es möglich, dass Becker als Informantin oder V-Frau des Verfassungsschutzes (VS) am Attentat beteiligt war?

Buback hat sich wegen der These von der »schützenden Hand« allerhand anhören müssen, man warf ihm Verschwörungstheorien vor. Doch wer weiß, wie der VS in den 1970ern arbeitete? Aus dieser Zeit sind viele krumme Geschichten bekannt. Zum Beispiel die von Peter Urbach, dem IM des Berliner Verfassungsschutzes, der Ende der 1960er Jahre die ersten Bomben in die Berliner Studentenszene schmuggelte.

Nur wenige Jahre später, nach dem Anschlag auf den »Berlin British Yacht Club« 1972, der ein Todesopfer forderte, wird die 20-Jährige Becker verhaftet und 1974 zu sechs Jahren Jugendstrafe verurteilt. 1975 ist sie unter den Mitgliedern der Bewegung 2. Juni, die durch die Entführung des Berliner CDU-Chefs Peter Lorenz freigepresst werden. Kurz nach dem Buback-Attentat von 1977 wird sie samt Tatwaffe angetroffen - aber ausschließlich wegen der Schießerei bei der Festnahme zu »lebenslänglich« verurteilt; bereits 1989 kann sie das Gefängnis verlassen.

Dass Becker ab 1981 kooperiert hat, wird nicht mehr bestritten. Davor auch? Der Politologe Wolfgang Kraushaar hat 2011 in einem Interview mit der Bundeszentrale für Politische Bildung gesagt, »Indizien« könnten dafür sprechen, »dass Verena Becker sogar bereits ab 1972 für den Verfassungsschutz tätig war«. Dass der VS seine Finger im »2. Juni« hatte, ist gesichert. Wäre nicht auch die junge Frau perfekt für eine Ansprache gewesen, spätestens im Jugendknast? Und dann gibt es noch den damaligen »Bild«-Chefreporter Nils von der Heyde, der 2011 sagte, der damalige Hamburger VS-Chef Christian Lochte habe ihm unmittelbar nach der Tat Becker als Schützin offenbart. Die Verteidigung weist mit dem Mordvorwurf auch solche Geschichten zurück.

Wäre, könnte, Konjunktiv - die Geschichte von Siegfried Buback und die von Verena Becker bleiben im Vagen, egal wie das heutige Urteil ausfällt. Verteidiger Venedey hat Recht: Das Stammheimer Tribunal ist, trotz aller Seltsamkeiten, keine Wahrheitskommission. Es ist ein Strafgericht. Wer aber wollte, dass die, die sie kennen, die Wahrheit über die bleiernen Jahre erzählen, kommt um den Gedanken einer Generalamnestie nicht herum. Das ist die einzige Lehre, die bedenkenlos aus diesem Prozess gezogen werden kann.

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