Knie und Hüfte zu oft im OP

Experten raten bei Operationsvorschlag zur Zweitmeinung - aber nicht über das Internet

  • Renate Wolf-Götz
  • Lesedauer: 3 Min.
Weil in Deutschland zu wenig Patienten eine zweite Meinung einholen, bevor sie sich unters Messer begeben, hat ein Heidelberger Professor im Internet ein Zweitmeinungsportal eingerichtet. Es ist allerdings umstritten.

Eine Operation wäre wohl das Beste, um die anhaltenden Knieschmerzen, ausgelöst durch einen Fahrradsturz, schnell wieder los zu werden, empfahl der Münchner Orthopäde. Der Sportwissenschaftler im Fitnesszentrum riet dagegen, die Beinmuskulatur zur Knieentlastung gezielt zu trainieren, denn »nach Knie-, Hüft-, oder Bandscheibenoperationen, geht es mit den Problemen meistens erst richtig los«.

Unter Experten steht fest, dass Ärzte zu häufig zum Messer greifen. Bei Knieoperationen etwa belegt Deutschland mit 206 Operationen pro 100 000 Einwohner den ersten Platz, wie OECD und Eurostat im Jahr 2008 ermittelten. Fast halb so oft setzen die schwedischen Ärzte das Skalpell ein; mit 110 Operationen folgen die Skandinavier auf Platz zwei. Am Ende der Vergleichstabelle findet sich Rumänien mit gerade einmal fünf Operationen.

Kaum anders sieht es bei den Hüftoperationen aus. Mit 289 Eingriffen belegt Deutschland auch hier den Spitzenplatz. Österreich folgt mit 174 Operationen und Zypern setzt mit 15 Hüfteingriffen das Schlusslicht. »Erschreckend, wie häufig in Deutschland mittlerweile operiert wird«, meint der Heidelberger Professor Hans Pässler. Aus Sicht des Kniespezialisten führen die Budgetvorgaben in den Krankenhäusern dazu, dass immer schneller operiert wird, weil damit Geld verdient werden könne. Aber: »Auch niedergelassene Orthopäden greifen häufiger zum Skalpell, um die Mietkosten für die OP-Säle zu kompensieren«.

Obwohl der Heidelberger Professor selbst ungezählte Knieoperationen durchgeführt hat, prangert er den Missstand der oft vermeidbaren Eingriffe jetzt an. Gemeinsam mit 13 Kollegen, die sowohl auf Knie- und Schulterverletzungen als auch auf Erkrankungen der Wirbelsäule und Hüfte spezialisiert sind, richtete der 71-Jährige vor einem knappen Jahr das Zweitmeinungsinternetportal »Vorsicht Operation« ein. Mit Hilfe dieses Portals können sich interessierte Patienten eine zweite Meinung zukommen lassen.

Umsonst gibt es das Zusatzgutachten der »Seniorenchirurgen«, wie sich die Gruppe der Portalbetreiber nennt, allerdings nicht. Für die Prüfung und Beurteilung eingesandter Röntgen- oder CT-Aufnahmen stellen die Fachärzte je nach Aufwand zwischen 200 und 600 Euro in Rechnung. Trotz des stolzen Preises berichtet Pässler von einer enormen Resonanz. Die Ergebnisse seiner Zweitmeinungsgruppe bestätigen den Professor zusätzlich: »Bisher haben wir über die Hälfte der empfohlenen Eingriffe als vermeidbar bis unnötig eingestuft«, betont er.

Kritik kommt indessen von der orthopädisch-chirurgischen Partnerschaft an der Heidelberger Klinik St. Elisabeth. In einer Stellungnahme distanzieren sich die Mediziner von der virtuellen Ferndiagnose: »Die alleinige Sichtung vorliegender Berichte und Bilder via Internet ohne die Berücksichtigung des Gesamteindrucks des Patienten ist aus unserer Sicht völlig unzureichend«, warnen die Klinikärzte. Der besonders bei Rückenschmerzen ebenso entscheidende seelische Zustand des Patienten oder auch soziale Faktoren seien bei einer Internetbegutachtung völlig ausgegrenzt.

Deutlich differenzierter fällt das Urteil von Professor Hans-Peter Bruch aus. »Schon möglich, dass in Deutschland zu viel operiert wird«, konstatiert der Präsident des Berufsverbandes Deutscher Chirurgen (BDC). Wie sein Kollege Pässler sieht auch er das Problem im System. Den jährlich steigenden Löhnen und Sachkosten müssten nach Auffassung der Klinikverwaltungen entsprechend steigende Einnahmen gegenüber stehen. Damit würde den leitenden Krankenhausärzten eine jährliche Budgetsteigerung von drei bis sieben Prozent vorgegeben. Aber auch die Patienten hätten ihren Anteil. Der BDC-Präsident beobachtet bei ihnen eine »regelrechte Reparaturmentalität«. Eingriffe würden geradezu eingefordert, weil man schnell wieder schmerzfrei sein wolle. Um die Operationszahlen zu senken, gibt es bereits Ansätze zur grundsätzlichen Einführung einer Zweitmeinung. »Ein Internetportal braucht es dafür aber nicht«, betont Professor Bruch. Jeder Deutsche, ganz gleich, ob gesetzlich oder privat versichert, hat nämlich das Recht, sich vor einer Operation von einem zweiten Arzt begutachten zu lassen. Manchmal hilft auch der Rat eines erfahrenen Sportwissenschaftlers im Fitnesszentrum.

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