Sechs Stufen der Lockerung

Maßregelvollzug in Sachsen-Anhalt

  • Dörthe Hein, dpa
  • Lesedauer: 3 Min.
Aus dem Maßregelvollzug in Bernburg sind 2011 so viele Patienten entwichen wie nie zuvor. Jetzt wurden die Bedingungen für die wegen Drogenproblemen als schuldunfähig eingestuften Straftäter verschärft.

Bernburg, ein heller Klinkerbau hinter hohen Metallzäunen und vergitterten Fenstern: Was aussieht wie ein Gefängnis ist tatsächlich eine psychiatrische Klinik - nur gelten ähnliche Sicherheitsvorkehrungen. Maßregelvollzug nennt sich, was hier passiert. Gerichte schicken Diebe, Einbrecher, Betrüger oder auch Totschläger, die aufgrund ihrer Drogensucht als krank und deswegen als schuldunfähig oder nur vermindert schuldfähig gelten. Sie sollen in der Klinik von ihrer Sucht loskommen.

Patienten immer jünger

Aktuell sind es in Bernburg 180 Delinquenten, die sich in den Therapien auch mit ihren Taten auseinandersetzen müssen. Im vergangenen Jahr gab es viele Schlagzeilen, denn 29 Insassen waren über die Monate verteilt zeitweise aus der Klinik verschwunden. So viele Entweichungen gab es in keinem anderen Jahr. 2012 ist das Bild anders - bislang konnten sich nur vier Patienten absetzen. Was hat sich verändert?

»Zum einen waren wir voll belegt, und dann hatte sich die Klientel erheblich verändert«, so die Ärztliche Direktorin des Landeskrankenhauses Bernburg, Heike Mittelstedt. »Wir haben kaum noch den klassischen Alkoholiker.« Stattdessen kämen immer mehr Patienten, die daneben noch andere Drogen nehmen. Besonders neue Drogen wie so genannte Kräutermischungen spielten eine wachsende Rolle.

Zudem werden die Patienten immer jünger. Das Durchschnittsalter ist laut Mittelstedt von 22 Jahren auf 20 gesunken. Die jüngsten sind 17, in den Augen der Psychiaterin »von der psychischen Entwicklung her« aber erst »14, 15, pubertär«. Aus Psychiater-Sicht bewirken die Drogen, dass die »Entwicklung« des Menschen stecken bleibt. Diese Patienten seien »aufsässig, persönlichkeitsgestört und schwer berechenbar«.

Im Maßregelvollzug kann dennoch niemand »weggeschlossen« werden. Als Prinzip gilt hier, die Patienten Schritt für Schritt an ein Leben im Einklang mit gesellschaftlichen Verhaltensregeln und Normen und ohne eine stoffliche Sucht heranzuführen. Dazu gibt es sechs Lockerungsstufen. Erst dürfen die Patienten gemeinsam mit einem Begleiter zu Therapien außerhalb der Klinik gehen, auch in einen klinikeigenen Park. Bewähren sie sich, dürfen sie stundenweise allein raus. Die höchsten Lockerungsstufen sind ein Urlaub und das Probewohnen - dort, wo sie nach der Entlassung leben werden. Diese Lockerungsstufen waren es, die die 29 Entflohenen im vergangenen Jahr nutzten, um sich abzusetzen. Ausbrüche im eigentlichen Sinn gab es nicht.

Vor allem die Jugendlichen liefen oft weg, sobald sie das erste Mal das Klinikgebäude verlassen könnten, erzählt Mittelstedt. »Sie sind störanfälliger für die ersten Lockerungsstufen.« Noch kurz vor der Entlassung stünden viele Patienten in der Gefahr, vom »Radar« der Betreuer zu verschwinden. »Das ist für die Patienten die belastendste Phase, wenn sie mit der Realität konfrontiert werden.« In der Klinik lebten sie unter einer Schutzglocke. »Wir passen auf, und hier ist immer jemand zum Reden.« Die Erfahrungen zeigten, dass die Patienten draußen komisch angeguckt würden, aber auch schwierige Behördengänge brächten manchen an seine Grenzen. Ganz zu schweigen vom Kontakt zu alten Kumpels.

Längere »Bewährungsfrist«

Mittlerweile müssen sich die Bernburger Patienten länger bewähren, um in eine höhere Lockerungsstufe zu rutschen. Darüber entscheidet immer das ganze Team aus Ärzten, Psychologen, Therapeuten, Sozialarbeitern und Pflegern. Der Wachschutz wurde verstärkt, mehr Polizisten fahren in der Nähe Streife. »Der deutliche Rückgang bei den Entweichungen kann als ein Beleg dafür gewertet werden, dass sich die Maßnahmen bewährt haben«, heißt es im Sozialministerium in Magdeburg.

Rund ein Drittel der Maßregelvollzugs-Patienten kommt nach der Entlassung zurecht, sagt Psychiaterin Mittelstedt. Ein weiteres Drittel erleide einen Rückfall in die Sucht, komme aber wieder klar. Vom restlichen Drittel der ihr Anvertrauten spricht die Psychiaterin als hoffnungslose Fälle.

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