Fünf Minuten Auto leihen

Flexibles Carsharing in Großstädten

Eine Fahrt durch Berlin kann dieser Tage für den aufmerksamen Autofahrer zum Dauer-Déjà-vu geraten: »Dieser braune Mini, ist der nicht eben schon an mir vorbeigefahren?« Paranoikern wird gar Angst und Bange: »Dieser weiße Smart, verfolgt der mich?«

Wer ganz genau hinschaut, erkennt jedoch das Markenzeichen an den Autos: Diese Minis und Smarts sind Carsharing-Autos der neuen Generation. Seit Herbst 2011 lässt »DriveNow« 500 Autos durch die Stadt rollen (Mini, BMW), seit April mischt auch »Car2Go« mit 1000 Smarts auf dem Hauptstadtmarkt mit. Ende August kommen auch noch die elektrisch betriebenen Citroën von »Multicity« dazu. Acht Carsharing-Anbieter gibt es dann in Berlin, das sich damit auch in Sachen Autoteilen als Hauptstadt erweist.

Carsharing gibt es schon seit gut 20 Jahren, doch von den einst erhofften vier Millionen Autoteilern ist man derzeit noch weit entfernt. Insgesamt 260 000 Fahrberechtigte hat der Bundesverband Carsharing im Jahr 2011 gezählt. 40 000 davon sind Kunden der neuen Anbieter. Und der Markt boomt. Denn zwei neue Ansätze machen die flexiblen Carsharer für neue Kundenkreise interessant. Erstens die simple Bezahlung: Nach einer einmaligen Anmeldegebühr (zwischen 10 und 30 Euro) wird minutenweise per Chipkarte abgerechnet (eine Minute kostet etwa 30 Cent, eine Stunde bis zu 15 Euro). Darin sind alle Kosten enthalten, auch Benzin und Versicherung. Man zahlt so lange, wie man das Fahrzeug nutzt. Das Auto kann am Ende der Fahrt einfach auf jedem öffentlichen Parkplatz im festgelegten Stadtgebiet abgestellt werden. »Free floating« (frei treibend) wird dieses Prinzip genannt.

Wer ein so ein frei treibendes Gefährt buchen möchte, muss es orten, was über das Smartphone oder die Internetseite problemlos möglich ist: Hat der Nutzer ein Auto gefunden, kann er es für 15 Minuten kostenfrei reservieren und in dieser Zeit zum Standort spazieren. Eine hohe Fahrzeugdichte ist dafür allerdings notwendig.

München, Düsseldorf, Hannover, Hamburg - auch in anderen deutschen Großstädten drängen die flexiblen Carsharer auf den Markt. »Car2Go« expandiert auch in nordamerikanischen Großstädten. Schließlich stecken handfeste Umsatzmöglichkeiten in dem Geschäft. Eine neue Studie der DEKRA prophezeit, dass auch künftig ein Potenzial von bis zu drei Millionen Nutzern besteht.

Die Autohersteller wollen von einem künftigen Boom profitieren. Sie sind auch die Betreiber der Berliner Neustarter. Hinter »DriveNow« stecken nicht nur der Autovermieter Sixt, sondern auch BMW und Mini. »Car2Go« hingegen wird von Mercedes in Zusammenarbeit mit Europcar betrieben. Immer weniger junge Leute können sich ein eigenes Auto leisten, immer weniger junge Leute machen überhaupt den Führerschein - die Hersteller sind womöglich nicht schlecht beraten, sich in Zukunft nicht nur als Autoverkäufer, sondern auch als »Mobilitätsanbieter« zu präsentieren.

Ein klassisches Carsharing-Fahrzeug ersetzt nach unterschiedlichen Studien vier bis acht Privat-Pkw, seine Nutzer fahren nachweislich weniger Auto als vor ihrem Beitritt und nutzen öfter umweltfreundliche Verkehrsmittel wie Fahrrad oder den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV). Ob das Carsharing-Prinzip »Nutzen statt Besitzen« durch die neuen Anbieter eine Renaissance erlebt, bleibt abzuwarten. »Wir beobachten die Entwicklung«, sagt Anja Smetanin, Sprecherin des Verkehrsclub Deutschland VCD, der sich »der ökologische Verkehrsclub« nennt. »Es gibt auch Kritiker, die befürchten, es werde dann wieder mehr Auto gefahren anstatt ÖPNV.« Immerhin sind viele Kunden der »Free floating«-Anbieter absolute Neulinge in Sachen Car-Sharing. Dass die neuen Minuten-Autos nicht nur eine Art Selbstfahrtaxis sind, wird sich erst noch beweisen müssen.

Beim VCD verweist man derzeit lieber auf private Carsharing-Portale wie Nachbarschaftsauto.de: Dort leihen und verleihen sich Privatleute ein Auto - bislang immer noch das günstigste und umweltfreundlichste Carsharing.


Carsharing bedeutet: Auto teilen. Das können Freunde, Familien und Nachbarn unter sich organisieren. In den meisten deutschen Städten gibt es aber auch Firmen und Vereine, die diesen Dienst anbieten. Wer Mitglied ist, kann sich stunden-, tage- oder wochenweise Autos ausleihen. Klassische Anbieter haben meist über das Stadtgebiet verteilte feste Stationen für die Autos. Eine Reihe neuer Anbieter hingegen erlaubt, die Autos überall in einem fest definierten Gebiet zu parken.

Carsharing lohnt sich vor allem für Menschen, die in Städten wohnen und das Auto nicht täglich benötigen. Geld spart laut »Finanztest«, wer mit dem Auto nicht mehr als 10 000 Kilometer pro Jahr unterwegs ist, also rund 30 Kilometer pro Tag.

Die Tarifstrukturen sind unterschiedlich und deshalb schwer vergleichbar. Meist fällt eine Aufnahmegebühr an, teils ist eine Kaution fällig. Einige Anbieter haben monatliche Grundgebühren. Für das Ausleihen eines Autos fallen Zeit- und Entfernungspauschalen an, meist eine Gebühr pro Stunde, Tag oder Woche sowie ein Betrag pro gefahrenem Kilometer. Bei den neuen flexiblen Anbietern zahlen Kunden meist pro Minute, unabhängig von gefahrenen Kilometern.

Per Internet, Telefon oder Smartphone buchen Nutzer das Auto. Es lässt sich dann mit einer Chipkarte öffnen. Abgerechnet wird über die Chipkarte, teils minutengenau. Bei dem flexiblen System ist eine langfristige Buchung nicht möglich: Die Nutzer suchen per Internetseite oder Smartphone das nächste Auto, öffnen es per Chipkarte, steigen ein und fahren los. Meist lassen sich die Autos für eine Viertelstunde blockieren.

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