Die Ausgegrenzten und die Zyniker

Die neue Unterschicht und die Lebenslügen der Upper Society

  • Gerhard Klas
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Wirtschaftskrise bringt es deutlich an den Tag: die Heilsversprechen der Marktwirtschaft erfüllen sich für immer weniger Bürger in Europa. Sie verarmen und werden an den Rand gedrängt. Gleichzeitig sprechen Konzerne und Banken von Verantwortung und versprechen in Selbstverpflichtungserklärungen, soziale und ökologische Standards einzuhalten. Neue Konzepte wie Soziales Unternehmertum oder Mikrokredite sollen karitative Ansätze ergänzen, soziale Transferleistungen des Staates ersetzten und Armen und Notleidenden künftig auf die Sprünge helfen.

»Wir müssen draußen bleiben - Die neue Armut in der Konsumgesellschaft« ist der Titel des neuen Buches der Münchner Journalistin Kathrin Hartmann. Sie blickt hinter die Kulissen dieser Konzepte und betreibt - wie schon mit ihrem ersten Buch »Ende der Märchenstunde. Wie die Industrie die Lohas und Lifestyle-Ökos vereinnahmt.« - klassische Aufklärung. Sie entlarvt Lebenslügen.

Die studierte Philosophin erkundet in Reportagen und in bestechend genauen Analysen die sich zunehmend spaltende Konsumgesellschaft: hier die Elite, die sich in gentrifizierten Stadtvierteln, neuerdings auch in Gated Communities und speziellen Clubs abschottet, dort die pauschal als »Unterschicht« für nutzlos erklärten Menschen, die sich oft nur noch über die sogenannten Tafeln ernähren können. Mit einem scharf sezierenden Blick demontiert die Autorin vermeintliche Heilsbringer in der Krise, die den Schein der Funktionsfähigkeit aufrecht erhalten sollen. Ein Augenöffner ist zum Beispiel das Kapitel über die Tafeln, an denen sich in Deutschland täglich eine Million Bedürftige mit Lebensmitteln versorgen können. Sie sind aus keiner Großstadt in Deutschland mehr wegzudenken. Viele Arme können sich mit den gespendeten Lebensmitteln der Supermärkte so auch am Monatsende noch adäquat ernähren.

Das klingt gut. Aber Hartmann beschreibt anschaulich die Kehrseiten: Tafeln ersetzen Sozialleistungen - seit Einführung der Hartz IV-Gesetze erleben sie einen regelrechten Boom. Und sie führen oft zur Erniedrigung der Bedürftigen. Nicht zuletzt deshalb, weil die Mittelschicht sich gegen effektive Forderungen stellt, die Wohlhabenden stärker zu Kasse zu bitten. Mehr als die Hälfte derjenigen, die in Deutschland materiell auf der Sonnenseite des Lebens stehen, sind stattdessen der festen Überzeugung, die Finanzkrise sei durch diejenigen verursacht, die den Sozialstaat ausnutzen. Für die andere Hälfte dienen die Tafeln als Beruhigungspille: Hartmann zitiert mit bissiger Ironie Ehegattinnen von Geschäftsleuten und Vermögenden aus der Mittelschicht, die bei der ehrenamtlichen Mitarbeit ihr soziales Gewissen beruhigen wollen. Notfalls versuchen sie es mit »Hartz IV Fasten« - dabei verpflichtet sich die Mitglieder einer Gruppe, eine Woche lang mit den finanziellen Mitteln eines Erwerbslosen auszukommen. Anschließend darf man sich wieder auf den gut gefüllten Kühlschrank freuen.

Gestützt auf soziologische Untersuchungen spricht Hartmann von einer »Radikalisierung der Eliten« und einer regelrechten Verachtung gegenüber den Armen, die sich unter anderem im Hamburger Volksbegehren gegen die Primarschule ausgedrückt hat. Für die um sich greifende soziale Ausgrenzung macht die Autorin die Agenda- und Liberalisierungspolitik der SPD und Grünen mit verantwortlich. Polemisch wird sie, wenn sie deren Politiker zitiert, die sich heute wieder als sozial gerieren, ohne auch nur ein Quentchen Verantwortung für die Misere übernehmen zu wollen.

Hartmann beschäftigt sich auch mit der internationalen Dimension der Ausgrenzung und kritisiert mit profunden Argumenten Mikrofinanz und »soziales Unternehmertum«, durch die Armut in der Welt bekämpft werden soll. Ihr Fazit nach Vor-Ort-Recherchen in Bangladesch: Dichtung und Wahrheit lagen selten weiter auseinander.

Die Recherchen zu ihrem Buch haben die Münchner Autorin alles andere als kalt gelassen. Sie schreibt, wie Konstantin Wecker singt. Sie ist empört und voller Leidenschaft für die Armen und Ausgegrenzten. Für die Lebenslügen der selbstgefälligen Ober- und Mittelschicht hat sie vor allem Spott und Zorn übrig. Der Lesbarkeit des Buches hat das nicht geschadet. Im Gegenteil.

Kathrin Hartmann: Wir müssen leider draußen bleiben - Die neue Armut in der Konsumgesellschaft. Blessing Verlag, München 2012. 416 S., geb., 18,95 €.

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