Offen für »Geheimdienstfolklore«

Der seltsame Sinneswandel der Grünen in Sachen Verfassungsschutz

  • Rainer Funke
  • Lesedauer: 4 Min.
Die geplante Neuausrichtung des Verfassungsschutzes greift aus Sicht der Grünen zu kurz. Im Hickhack von Bund und Ländern sei »die nötige umfassende Reform auf der Strecke geblieben«, sagte dieser Tage Grünen-Fraktionschefin Renate Künast.

Dürfen die Grünen als weiser gelten, weil aus einst revoltierende Ökos und Pazifisten inzwischen Rechtsanwälte, Ärzte, Forscher und Berufspolitiker geworden sind? Eine gewisse Automatik ist nicht zu erkennen. Als auffällig erweist sich, dass einst strikte Kriegsdienstverweigerer in Regierungsverantwortung Soldaten nach Afghanistan und sonst wohin schickten. Und auch im Streit um die Zukunft des Verfassungsschutzes ist Sinneswandel augenfällig.

Noch zeichnet sich in der Debatte um die Morde der Naziterrorgruppe NSU und den wieder mal versagenden Inlandsgeheimdienst ein eher unübersichtliches Bild ab. Parteichefin Claudia Roth sprach in einem Interview davon, dass das ganze Konstrukt der Behörden in Bund und Ländern vor der »politischen Insolvenz« stünde. Weshalb sie »eine Strukturreform bis hin zur teilweisen oder vollständigen Auflösung« des Verfassungsschutzes forderte.

Abschaffung war kein Tabu

Für Susanna Tausendfreund, Innenexpertin der bayerischen Grünen, reicht es nicht, aus der Verfassungsschutz-Abteilung im Münchner Innenministerium, die vor zehn Jahren (un)sinnigerweise mit dem Katastrophenschutz zusammengelegt worden war, wieder ein eigenständiges Ressort zu machen. Es bedürfe vielmehr einer grundlegenden Reform, die ergebnisoffen diskutiert werden müsse. »Hier darf auch die Abschaffung des Verfassungsschutzes kein Tabu sein.«

Für eine solche Position gibt es gute Gründe. 1998 hatte man im Parteiprogramm klare Linien gezogen. So hieß es, Geheimdienste hätten »fast alle Aufgaben verloren«. »Zwecks Arbeitsbeschaffung« würden »krampfhaft neue Aufgaben gesucht«, etwa die Beobachtung der Scientology. Die Auseinandersetzung mit extremistischen Ideologien könne demokratisch nur durch die öffentliche Diskussion in der Gesellschaft geleistet werden. »Für die Bekämpfung von Straftaten krimineller Organisationen ist die Polizei und Justiz zuständig.« Beide verfügten »mit dem Strafrecht auch über ein geeignetes Instrumentarium«, wurde weiter festgestellt. »Die Geheimdienste sind schrittweise aufzulösen. Solange dies nicht geschehen ist, müssen vor allem ihre nachrichtendienstlichen Befugnisse begrenzt und die parlamentarische Kontrolle verbessert werden.« Die Argumente hört man nur noch bei der LINKEN.

Nach dem jüngsten Skandal um den Verfassungsschutz scheint es bei den Grünen zumindest in der Bundestagsfraktion ein Umdenken gegeben zu haben. Innenexperte Wolfgang Wieland, kurzzeitig Justizsenator in Berlin, vergleicht die Lage gegenüber der »Märkischen Allgemeinen« mit der Situation des Autofahrers, der sage, seine Windschutzscheibe sei bekleckert, die Sicht behindert, da könne er sich gleich die Augen verbinden. Wer den Verfassungsschutz abschaffe, der werde im Ergebnis eine Geheimpolizei haben. Die bisherige Trennung sei eine Errungenschaft, die verspielt würde.

Auch Fraktionschefin Renate Künast meint, das historisch gut begründete Trennungsgebot zwischen Geheimdienst und Polizei würde zu einer ungeheuren Machtfülle bei letzterer führen. 1989 hatte sie noch laut einer Rundfunksendung formuliert: »Abschaffen ist die einzige Devise.« Mit an die 60 Spitzeln hatte Berlins Geheimdienst damals versucht, die Alternative Liste in Berlin auszuforschen. Das Feindbild des Landesamtes begann im politischen Spektrum gleich links neben der CDU. Es beschäftigte zwielichtige Gestalten, beschattete SPD-Abgeordnete und Journalisten. Es gab ständig undichte Stellen, Intrigen, Indiskretionen und gegenseitiges Blockieren, vernichtete Akten. Man denunzierte Spitzenleute der Polizei und wusste ansonsten keineswegs, was man hätte wissen sollen bis müssen.

Jede Uni kann's besser

Einem CDU-Abgeordneten wird übrigens die sarkastische Bemerkung zugeschrieben, würde man Waffen ausgeben, hätte sich die Frage nach dem Schicksal des Landesamtes längst von allein gelöst - man hätte sich gegenseitig umgebracht. Selbst Eduard Vermander, der im Juli 2000 den Dienst als Chef des hauptstädtischen Landesamtes für Verfassungsschutz quittieren musste, gab zu, irgendwie eine »bessere Detektei« geleitet zu haben.

Der heutige Streit um das Für und Wider entstand freilich auch deswegen, weil sich der Verfassungsschutz seit eh und je als schlichtweg unkontrollierbar erwiesen hat. Und zudem ein dauerhaft unprofessionelles bis stümperhaftes Agieren an den Tag legte, was Künast immer mal wieder Geheimdienstfolklore nannte.

Die angesichts der weiter andauernden behördlichen Ermittlungsdesaster angekündigten schärferen Kontrollen durch Parlamente dürften nach aller Erfahrung daran nichts ändern. Politikberatung oder Frühwarnsystem, das könne jede Projektgruppe einer Uni besser als der Verfassungsschutz, so Künast gegenüber »nd« vor fast genau 20 Jahren. »Was wir tun, ist allenfalls ein Kontrollversuch, der an der einen oder anderen Stelle pieksen und zwingen kann, endlich Vorschriften zu erlassen, danach zu arbeiten, das Amt in der einen oder anderen Sache vorsichtiger zu machen«, meinte Künast. Hat sich daran seither etwas geändert?

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