Kurven der Lust

Verboten. Verdrängt. Vermarktet. - Vom Werden und Vergehen einer menschlichen Regung

  • Franz Schandl
  • Lesedauer: 9 Min.

Lust entsteht historisch erst mit der Entwicklung der Sexualität, die über den Sex hinausreicht. Lust ist nicht instinktgesteuert. Lust ist also etwas anderes als der direkte Trieb oder die unmittelbare Begierde. Die Sexualität der Menschen ist mehr als die Befriedung der Instinkte, in ihr wird die Befriedigung eines Bedürfnisses zum Akt eines selbstständigen, ja tendenziell selbstbestimmten Genusses. Lust ist ein Artefakt. Natur ist ihr nur Stoff, nicht Inhalt. Mag Sex noch Natur sein, so ist es Sexualität nicht mehr. Kurzum, die Menschen vögeln tatsächlich um des Vögelns willen. Sexualität hat mit der Fortpflanzung nur noch am Rande zu tun, der Instinkt selbst ist bloß noch ein ferne Quelle, die mit der Etablierung der Erotik jeden Vorrang verloren hat. Der Menschen Lust ist originell, aber nicht originär.

In der Lust entfalten sich vielmehr die besten Momente der Humanisierung, von der zartesten Berührung bis zur heftigsten Durchdringung. Ganz allgemein ist die Lust als eine spezifische Kultivierung menschlicher Grundbedürfnisse zu fassen und somit weit über diese hinausweisend. Was auflebt, ist die Fantasie. Lust reflektiert und zelebriert das Begehrte. Dezidiert pflegt die Lust Prozeduren, die in der Natur nicht vorgesehen sind. Sie ist keine Manifestation der Überwältigung, so sehr eins sich auch »überwältigt« fühlt. Lust ist nur beiläufig läufig, im Prinzip hat sie sich von der Läufigkeit emanzipiert.

Nennen wir sie vorerst das Affizieren und Partizipieren von Annehmlichkeiten. Sie ist etwas, das aus dem Inneren kommt, aber der Äußerung via Betätigung bedarf, um dann wiederum als Innerung auszuklingen. Lust genügt sich nicht im Schwelgen des Gefühls, sie will den Effekt spüren und genießen. Lust verlangt nach Erleben und Befriedigung. Kennzeichnend dafür der Wechsel von Spannung und Entspannung. Sie ist nicht das eine oder das andere, sondern in der Lust wird das eine im anderen aufgehoben. Lust orientiert in ihrem Werden auf das Resultat, sie ist Wollen samt Können. Die Scheidung in eine Lust als Möglichkeit und eine Lust als Wirklichkeit ist nur bedingt zulässig. Sie gehören zusammen. Zwar nicht eins, aber wollen sie es werden.

Lust meint Empfindung samt Findung. Sie »hat die Gewissheit, dass an sich schon dies Andere es selbst ist« (G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 1806). Das An-Sich wird zum Für-Sich, folgen wir dieser Denkfigur. »Die genossene Lust hat wohl die positive Bedeutung, sich selbst als gegenständliches Selbstbewusstsein geworden zu sein, aber eben sosehr die negative, sich selbst aufgehoben zu haben.« (ebenda) Sie negiert die Spannung, indem sie diese positiv einlöst. Aber die Verwirklichung zeitigt eine Wirkung, die das Verwirken in sich trägt. Lust geht also im Lust-gehabt-Haben unter, das dem Lust-Haben folgt. Lust ist kein Zustand von Dauer, sondern einer von Momenten. Lust hat demnach eine gewisse Eile, sie lässt sich nicht perpetuieren oder gar konservieren. Sie blüht in den Augenblicken der Diskontinuität, sie ist nicht planbar und auch nur eingeschränkt steuerbar.

In ihren Genüssen ist die Lust schier unendlich. Ein Zuviel kann es kaum geben. Es mag eine Fresssucht, eine Spielsucht, eine Drogensucht ausmachbar sein, eine Lustsucht gibt es mitnichten. So ist die Lust ein Ansinnen, das alles treffen könnte, aber dann doch dieses oder jenes trifft, also sich konkretisieren muss, will sie Wirklichkeit werden, nicht reines Verlangen bleiben. Erfüllte Lust meint Verschmelzung. Immer geht es um eine reelle oder ideelle Einverleibung. Stets regt sich Appetit. Was außen ist, soll zu mir kommen oder auch in mir werden. Das Terrain der Lust ist grenzenlos, kein Gebiet, auf dem sie nicht ihre Mannigfaltigkeit demonstriert.

Kann das Realitätsprinzip als Einsicht in die Notwendigkeit charakterisiert werden, so das Lustprinzip als Aufleben der Bedürftigkeit. Das Realitätsprinzip beschreibt Sigmund Freud als »den Aufschub der Befriedigung, den Verzicht auf mancherlei Möglichkeiten einer solchen und die zeitweilige Duldung der Unlust auf dem langen Umwege zur Lust« (Sigmund Freud, Jenseits des Lustprinzips, 1920). Der Umweg ist freilich ein Unweg. Eine Straße, die nicht zur Lust leitet, sondern die Lust um- und letztlich ableitet. Lust wird dabei zwar nicht verboten, sondern als ewiges Versprechen installiert. Somit ist sie aber bloß noch leere Projektion, verliert sich in einem Wollen, das zu keinem Vermögen mehr findet.

Freud hält ganz nüchtern fest, dass das Lustprinzip nicht herrschen kann, denn sonst müsste »die übergroße Mehrheit unserer Seelenvorgänge von Lust begleitet sein oder zu Lust führen, während die allgemeine Erfahrung dieser Folgerung energisch widerspricht«. Das soll gar nicht abgestritten werden. Indes, warum widerspricht sie ihr? Diese Frage ist unmittelbar anzuschließen, der Befund nicht als eherne Gegebenheit zu lesen, die keiner weiteren Erläuterung bedarf. Denn tatsächlich geht es im einzigen Leben um das gute Leben, d.h. das Dasein den Lüsten anzunähern, die Notwendigkeiten zurückzudrängen und die Annehmlichkeiten zu erweitern. Es geht darum, soviel als möglich gerne zu tun, nicht weil wir es positiv denkend so zu interpretieren haben, sondern weil es einfach Freude macht.

Lust kann somit nicht als ledige Approximation gelten, sondern bedarf auch der Erreichung ihrer Vorhaben. Lustverlangen und der Lustgewinn gehören unvereinbar zusammen. Unvereinbar deswegen, weil das eine zwar nicht das andere ist, aber das eine ohne das andere nicht sein kann. Lust kann nicht auf das Prospektive reduziert werden. Lust auf etwas ist nicht von der Lust bei etwas zu trennen. Erst Lusterfüllung komplettiert Lust, das Begehren allein ist zu wenig. Wenn Lust einen Mangel beheben möchte, dann muss sie sich vollziehen, will Lust nicht in Unlust umschlagen.

Wenn wir von Lust reden, dürfen wir die Unlust nicht verschweigen. Die Unlust ist tatsächlich Überträger der Konvention. Lust hat ja immer Veränderung im Visier, Unlust nicht. Sie repräsentiert den Tod im Leben. Unlust hat man nicht auf etwas, sondern von etwas. Wer die Schnauze voll hat, hat keinen Appetit mehr. Auch wenn wohl niemand unlustig sein möchte, wird die Unlust doch durch die Handlungen und noch mehr durch die Unterlassungen kultiviert. Vielfach wollen die Unlustigen, weil sie aus ihrer Unlust nicht herauskönnen, diese dann noch verallgemeinern, also auch jenen aufhalsen, von denen sie meinen, es ginge ihnen besser. Es regiert die Gleichheit des Schlechten: Euch werden wir schon noch Mores lehren! Das Leben ist kein Wunschkonzert! Wenn es mir schlecht geht, soll es dir auch nicht besser gehen! - Wo Freude nicht Ziel ist, wird Schadenfreude zum Lückenbüßer. »Je tiefer das Glück, umso weniger wird in dieser Gegend davon gesprochen, damit man sich nicht drinnen verirrt und die Nachbarn nicht neidisch werden«, schreibt Elfriede Jelinek in ihrem Roman »Lust« (1989).

Die Unlustigen negieren bereitwillig ihre Bedürfnisse und versäumen so ihre Möglichkeiten. Indifferenz und Lustlosigkeit sind zwangsläufig die Folgen. Der Mangel an Lust rührt direkt aus dem Mangel an Empfinden und Empfindlichkeit, und er führt wiederum direkt zu diesen Ausgangspunkten zurück. Trotz aller Propaganda ist unser Leben auf Lustlosigkeit angelegt. Wir sind abgestumpft, mentale Analphabeten, die Ware vermittelt eine Gleichgültigkeit sondergleichen: Alles ist kaufbar, alles ist verwertbar, und wir sind als Hüter der Ware die Verhüter des Lebens. Unsere Stärke geht in der Arbeitskraft verloren, anstatt sich als Lebensenergie zu entfalten. Bei Vermögen denken wir nicht an Kenntnisse und Fähigkeiten oder, noch naheliegender, daran, uns zu mögen, sondern an Geld und Immobilien, Autos und Fernreisen.

Entspannung kennt neben der Befriedigung noch eine zweite Form: die Zerstreuung. Der Begriff legt es schon nahe: Zerstreuung ist Dekonzentration. In der Leistungsgesellschaft folgt sie einer zwingenden Logik. Da die Energie in diversen Arbeits- und Alltagsprozessen verbrannt wurde, bestimmen reaktives Tun und passives Hinnehmen die sogenannte Freizeit. Man hat das Gefühl, dass für nicht wenige die Lust zu einer Last, ja regelrechten Zumutung geworden ist. Eben weil es zusehends schwieriger wird, sich in ihr einzurichten, ohne fundamental zu scheitern, sei es auch bloß, weil man nicht die Zeit dafür hat, die man sich nehmen müsste. Sie ist einem genommen.

Ökonomisch attraktiv ist es, diesen Mangel zu verwalten, zu behandeln und auch zu erzeugen, d.h. Empfindungen anzustacheln und Findungen zu erschweren. Das erhöht die Geilheit und lässt auf diversen Surrogaten Wirtschaftssparten sprießen. Zerstreuung und Ablenkung haben mitgeholfen, die große Unterhaltungs- und Abfütterungsindustrie des Spektakels zu entwickeln. Lustakte werden zu Konsumakten, und zwar auch aufgrund ihrer vermeintlichen Anstrengungslosigkeit. Lust wird begradigt am Highway des Tauschs. Die satten Landschaften des Lebens sind außerhalb der Leitplanken, aber man kommt zügig voran. Man fährt ab, aus Lust wird Unterhaltung, stets geht es darum, die »Kostenlosigkeit der Lust« (Raoul Vaneigem, Das Buch der Lüste, 1979) durch Angebote des Entertainments zu unterlaufen. Aus dem Spiel der Lüste werden Spielräume des Marktes.

Die Befreiung der Lust hin zum Geschäft hat inzwischen ein rasantes Tempo angenommen. Es ist nämlich noch gar nicht so lange her, da wurde Lust (meist flankiert von religiösen Wahnvorstellungen) regelrecht abtrainiert: durch Zucht und Disziplin, durch Drill und Angstmache, Verbot und Strafe. Das gibt es zwar alles noch, aber nicht mehr in seiner offenen und repressiven Form. Nicht die Unterdrückung der Lust ist in den kapitalistischen Metropolen des Westens ein zentrales Problem, sondern deren Zurichtung. Was im Alltag keinen oder immer weniger Platz findet, wird durch die Sexualisierung der Ware im Spektakel substituiert. Warum aktivieren, wenn konsumieren in jeder Hinsicht einfacher erscheint?

Die Sexualisierung der Gesellschaft ist gleichbedeutend mit der Ablenkung der Lüste. Lust zu haben ist keine unanständige Regung mehr, sondern eine ständige Pflicht. Sie wird unablässig dekonstruiert und rekonstruiert, sortiert und filtriert, malträtiert und präpariert, sodass wir oft gar nicht wissen, was da unser ist. Ziel ist es, aus diversen Lüsten Kapital zu schlagen, sie geschäftsfähig zu machen, als sei dies das Selbstverständlichste auf der Welt. Lust wird angeregt, aber auf ganz spezifische Weise. Die Kulturindustrie ist eine große Lustumleitungsmaschine, das Spektakel ein großer Monolog.

Wir sind umstellt. Der erotische Appeal ist die erste Aufgabe der flächendeckenden Werbung. Das Spektakel funktioniert als Appetizer diverser Zerstreuungen. Dauernd prasseln sexuelle Codes auf uns nieder, überfluten unsere Sinne und prägen unsere Sinnlichkeit. König Sex dominiert, aber nicht, weil Lust und Freude sind, sondern weil sie nicht sind. Mit »oversexed and underfucked« wird einiges richtig beschrieben. Wir leben in der geilsten, aber wahrscheinlich asexuellsten aller Welten.

Franz Schandl, geb. 1960, Historiker und Publizist, ist Herausgeber der Zeitschrift »Streifzüge«. Er lebt in Wien.

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