Reiche rennen schneller

Die meisten Behinderten leben in armen Ländern, doch die stellen nur wenige Sportler

  • Ronny Blaschke, London
  • Lesedauer: 3 Min.
Die Paralympics verzerren die Realität. 40 Prozent aller Athleten kommen aus neun reichen Nationen. Den Ärmsten fehlen Sponsoren

Thin Seng Hon steht im Olympiastadion und staunt. Rechts von ihr fällt eine niederländische Prothesenläuferin kreischend ihrem Trainer in die Arme, links wird ein japanischer Rennrollstuhlfahrer von einem Dutzend Journalisten befragt. Zierlich und erschöpft faltet Thin die Hände hinter ihrem Rücken und sagt leise: »Alles ist toll hier, ich bin zufrieden.« Worte und Körpersprache wollen aber nicht zueinander passen. Thin fehlt der rechte Unterschenkel, sie stammt aus Kambodscha. Nirgendwo in der Welt ist der Anteil von Menschen mit Amputationen aufgrund vieler Landminen höher. Das Paralympics-Team Kambodschas könnte riesig sein, doch Thin Seng Hon ist die einzige Starterin.

Die Stars in London heißen Oscar Pistorius oder Alessandro Zanardi. Sie sind talentiert, trainieren hart - und haben hervorragendes Material: Das Prothesenpaar, auf dem der Südafrikaner Pistorius läuft, kostet 20 000 Euro. Das Handbike, mit dem Italiener Zanardi Gold gewann, wurde für 6000 Euro gefertigt. Beide Athleten stehen an der Spitze der paralympischen Elite: Vierzig Prozent der 4200 Teilnehmer stammen aus nur neun wohlhabenden Ländern, insgesamt sind aber 165 Nationen vertreten. So verzerren die Paralympics die Wirklichkeit, denn von einer Milliarde Menschen mit Behinderung leben laut Weltgesundheitsorganisation WHO 80 Prozent in Entwicklungsländern.

So wie Läuferin Thin. 2005 hatte sie mit dem Leistungssport begonnen, schon bald hörte sie wieder auf, weil sie keine Unterstützung fand. Behinderte Menschen werden - nicht nur - in Kambodscha ausgegrenzt. Freunde sammelten Spenden und kauften Thin eine Prothese für umgerechnet 2000 Euro. Peanuts für Pistorius oder Zanardi - drei Jahresgehälter für Thin, die in Kambodscha von einem eigenen Souvenirladen träumt. »Mit einer besseren Prothese wäre ich schneller gelaufen«, glaubt die 29-Jährige. Über 100 und 200 Meter war sie zuvor jeweils im Vorlauf ausgeschieden. Ihre Prothese bezeichnet sie trotzdem als ihr Glücksbein.

Die Paralympics sind eine Zweiklassengesellschaft, wenn die Unterschiede auch kleiner werden. 1988 waren nur 61 Länder in Seoul vertreten, in London sind es fast dreimal so viele, 16 Nationen feierten hier ihre Premiere. Es hätten sogar mehr sein können: Doch die Sportler aus Malawi und Botswana mussten ihre Reise absagen, da sie laut »Guardian« nicht genug Sponsoren gefunden hatten. »Es ist eines unser wichtigsten Ziele, die paralympische Bewegung auszuweiten«, sagt Philip Craven, Präsident des Internationalen Paralympischen Komitees IPC. »Damit würden das Niveau und die Aufmerksamkeit für behinderte Menschen in ärmeren Ländern steigen.«

Also verteilt das IPC Wildcards an Athleten, die sich sportlich nicht qualifiziert hatten. Eine der 61 Sondergenehmigungen, verteilt auf 50 Länder, ging an Thin Seng Hon. Sie soll in Kambodscha Versehrte des Bürgerkrieges für Sport motivieren, doch das Fernsehen hat ihre Läufe nicht übertragen und Journalisten reisten nicht nach London. In früheren Interviews hat Thin oft einen stärkeren Fokus auf Entwicklungsländer gefordert, in London will sie das nicht wiederholen. Verbittet sich das IPC Kritik? Oder will sich Kambodschas Regierung Ärger ersparen?

Das IPC ist von Partnern wie »Motivation« abhängig. Die Wohltätigkeitsorganisation hat Material und Vertrieb für günstige Rollstühle im Tennis und Basketball entwickelt: Sie kosten statt 5000 nur 550 Euro. Bislang wurden 4000 dieser Geräte in 50 Länder ausgeliefert. »Viele Teams können sich bei keinen Techniker leisten, ihr Material ist aber veraltet und defekt«, sagt Rüdiger Herzog von Otto Bock. Der Prothetik-Hersteller organisiert die Werkstätten in London, in denen 80 Techniker alle Sportler kostenfrei unterstützen. Doch das hilft nicht jedem. Von 13 Sportlern aus Kenia etwa ist nur einer auf einen Rollstuhl angewiesen, die anderen sind sehgeschädigt. Gute Förderung ist mehr als nur Geld für Material.

In Kambodscha gibt es kaum barrierefreie Sportstätten. Thin Seng Hon hofft trotzdem, dass sie in vier Jahren nicht allein nach Rio de Janeiro reisen muss. Sie würde gern wieder im selben Stadion laufen wie Posterboy Oscar Pistorius. Auch wenn zwischen ihnen Welten liegen.

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