Türkisches Gericht greift tief in die Geschichte
Prozess gegen oppositionelle Journalisten auf den 12. November vertagt und aus Istanbul verlegt
Einen Tag nach der Unterbrechung verkündete das Gericht schriftlich eine zweite Entscheidung: Zwei der 36 Inhaftierten werden freigelassen, bleiben aber wie ihre übrigen acht ebenfalls auf freiem Fuß befindlichen Kollegen weiter in diesem Verfahren angeklagt. Einer von ihnen ist Çağdas Ulus. Er war der einzige verhaftete Journalist in diesem Prozess, der nicht bei einem pro-kurdischen oder sozialistischen Medium arbeitet, sondern bei der konservativen Tageszeitung »Vatan«.
Die Auseinandersetzung um eine Verteidigung in kurdischer Sprache hatte die Spannungen während der ersten drei Prozesstage wesentlich beeinflusst. Der Staatsanwalt İsmail Işık widersprach der Forderung der Angeklagten und ihrer Verteidiger unter anderem mit Verweis auf den Vertrag von Lausanne aus dem Jahr 1924. Nach diesem könnten nur nicht-muslimische Religionsgemeinschaften als Minderheiten anerkannt werden und hinsichtlich ihrer Sprache Schutzrechte geltend machen. Dem folgte das Gericht. Die Angeklagten quittierten diese Verweigerung mit schwarzen Streifen, die sie sich vor den Mund klebten.
Richter Alçık hatte auch der Forderung des Staatsanwalts stattgegeben, die Zuschauer auszuschließen. Nur Journalisten durften am dritten Prozesstag noch zuhören, selbst Parlamentsabgeordneten wurde der Zutritt verweigert. Begründet wurde dies mit Buhrufen und Beifallsbekundungen, die beim Verfahrensauftakt von den Publikumsrängen kamen. Der Anwalt Ercan Kanar kündigte eine Beschwerde beim »Hohen Rat der Richter und Staatsanwälte« an und verlangte eine Rücknahme der Entscheidung, erfolglos. Sein Kollege Sinan Zincir ergänzte daraufhin, wenn das Gericht die Öffentlichkeit ausschließe, sei ihm wohl auch die Anwesenheit von Verteidigern vor Gericht bedeutungslos. Die Anwälte würden die undemokratische Einstellung des Gerichts auf keinen Fall akzeptieren und das Gericht ebenfalls verlassen, bis die Öffentlichkeit wieder zugelassen werde.
Nach dieser Reaktion verkündete der Richter die Prozessvertagung um zwei Monate nach Silivri. Verhandelt werden soll dort in einem Gerichtsgebäude, das speziell für große politische Verfahren benutzt wird. Dieses Gerichtsgebäude ist dem dortigen Gefängnis angeschlossen, in dem viele derjenigen inhaftiert sind, denen eine »Rädelsführerschaft« oder Mitgliedschaft in der KCK (Union der Gemeinschaften Kurdistans) vorgeworfen wird. Eben dies ist auch der Vorwurf gegen die 44 Journalisten und Verlagsmitarbeiter. Als »Beleg« dienen der Anklage Artikel zu allen möglichen Themen, Telefonate und Behauptungen aus anonym gehaltenen Quellen.
Zum Aktionspaket
Linken, unabhängigen Journalismus stärken!
Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.
Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.